Zwischen Zukunft und Vergangenheit
Am Buckel hab ich 93 Jahr‘,
Grau und schüttern ist mein Haar,
Seit 20 Jahren kein Schritt aus der Tür,
Für Soziales längst mehr kein Gespür,
Sehkraft und das Hören schwindet,
Gibt‘s wen, der was dagegen erfindet?
der Kaffee am Herd ist durchgebrannt,
Lebenslust ist mir nicht bekannt,
Eintönig und öde ist das Leben,
Kraftlos nach was bess‘rem zu streben,
Sag mir gibt es eine Art,
Wie man sich Papier erspart,
Briefe schreiben kann ich nicht mehr,
Die Familie vermisst mich eh nicht sehr,
Hat sich wohl in den vielen Jahren,
In uns‘rer Welt etwas getan?
Vielleicht gibt‘s viel mehr guten Wein,
Oder elektrischen Kerzenschein,
Vielleicht kann man ohne Holz schon heizen,
Oder gibt‘s Bier jetzt ohne Weizen?
Aus der Tür trau‘ ich mich nicht raus,
Vor dem Zukunftsportal heg‘ ich Graus,
Seufzend lass‘ ich mich im Sessel nieder,
Erinnerungen kehren wieder,
Ein schöner Altweibersommertag,
Als ich auf der Veranda lag,
Kam das Militär zur Hintertür rein,
Die Kinder fingen an zu schrein‘,
Leise spähte ich durch einen Spalt hinein,
Doch mein Körper ließ mich nicht mutig sein,
Kauernd blieb ich draußen sitzen,
Und musste um meine Familie schwitzen,
Mein Mann versuchte die Kinder zu schützen,
Mit dem Judenstern auf ihren Mützen,
„Nehmt mich, lasst die Buben allein“,
Da jagten sie ihm eine Kugel rein,
Langsam sackte er zusammen,
Die Augen der Kinder standen in Flammen,
Die Buben gingen betroffen ohne Wort,
Mit den Soldaten aus der Tür hinfort,
Das alles ging in Windeseile voran,
Sodass ich nicht mehr sagen kann,
Ab welchem Zeitpunkt war es soweit,
Wann war‘s Zukunft oder Vergangenheit?
Zögernd erhebe ich mich nun,
Soll ich doch ein Schrittchen tun,
Doch wegen meiner Kinder Harm,
Verspüre ich dafür zuviel Scham,
Mein Blick schwankt auf das Fotoregal,
Wo mein kleiner Bub mir die Aufmerksamkeit stahl,
Und auf einmal fällt mir ein,
Schaut er jetzt gar anders drein?
Mein kleiner Engel schaut mich an,
Und sagt: „ Mutter, du hast keine Schuld daran!“,
Mein Gott jetzt ist‘s um mich geschehen,
Kann ich jetzt schon Geister sehen?
„Geh raus und erzähl den Leuten von mir,
Sonst bleibst du allein und stirbst noch hier!“
Zitternd drehe ich den Schlüssel um,
Und sage mir, jetzt werd ich dumm!
Sollt ich so den Verstand verlieren,
Will ich immer darum gieren,
Wahrscheinlich ist‘s eine Illusion,
Doch immerhin von meinem Sohn,
Für meine Kinder, jetzt zwing ich mich,
Weil früher ließ ich sie im Stich,
Knarzend gab die Hintertür nach,
Die Sonne mich am Körper stach,
Es kitzelte mich die warme Brise,
Und vis-à-vis flatterte die Markise,
Ich war zu einer Veränderung bereit,
Die Angst wurd‘ vertrieben von Glücklichkeit,
Jetzt wird mir klar,
Was mir früher nie war,
Um die Zukunft zu verstehen,
Muss man die Vergangenheit vor Augen sehen.
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