Chronotonvon Franziska Payr
Er steht auf, wie er immer aufsteht. Er steht also auf, nicht weil er will, sondern weil er glaubt, etwas tun zu müssen, weil das Tun das Einzige ist, was ihn vom Denken abhält, und das Denken das Einzige, was ihn vom Sterben abhält, und das Sterben wiederum das Einzige ist, das ihn wirklich interessiert.
Er steht also auf, zieht sich an, nicht weil er friert, sondern weil die Nacktheit ihm zu ehrlich wäre und er das Ungetarnte nicht erträgt, weil er sich selbst erträgt, so, wie er ist, nicht so, wie er sein könnte, wenn er es wagte, stillzustehen. Er erinnert sich an früher, nicht an die Kindheit im eigentlichen Sinn, weil Kindheit etwas ist, das anderen gehört, sondern an das, was ihm stattdessen gegeben wurde: einen Raum. Schon damals hatte er keines, kein Gesicht.
Er erinnert sich an das Zwicken, also die Notwehr, obwohl niemand ihn angegriffen hat außer der Welt selbst, dieser klebrigen Welt, die ihn am Boden festpickt. Die sich bewegt, aber nie schnell genug, nie so schnell, dass sie ihn mitreißt. Und er zwickt, nicht aus Bosheit, sondern aus der Unfähigkeit, in Worte zu fassen, die Worte, die man ihm beibringt, sind zu rund. Zu glatt, sie passen nicht durch die engen Öffnungen seines Kopfes und deshalb greift er zu, körperlich, weil Körperlichkeit ehrlicher ist. Unmittelbarer Schmerz bedeutet unmittelbare Kommunikation.
Er erinnert sich an die Dachkammer, nicht an die Frau darin, nicht an ihr Gesicht, sie hatte zu viele, ein Sammelsurium von Gesichtern, die sich abwechselten, je nachdem, wie sie fragte, wie sie schwieg, wie sie auf ihrem Klemmbrett notierte, was sie für wichtig hielt, während er wusste, dass das Wichtigste nicht notierbar ist. Weil sich das Wichtigste entzieht, weil es keine Form hat. In der Dachkammer wurde er geprüft, getestet, vermessen, er hatte das Gefühl, wirklich zu denken, nicht bloß dazusein, nicht bloß das Kind zu spielen, das gesehen werden wollte. Und er liebte es, dieses Denken, und gleichzeitig wusste er, dass es ihn vergiftet, weil jedes Denken Gift ist. Oh, das Gift machte ihn schnell süchtig.
Und die Jahre vergehen, er lernt schneller als die anderen, natürlich tut er das, weil er muss, weil Langsamkeit ihm Schmerz bereitet, jede Sekunde Stillstand hinterlässt eine Verbrennung, und er wird bewundert, ja, man bewundert ihn hinter vorgehaltener Hand, denn Bewunderung ist nur eine höflichere Form des Ekels: Die Erwachsenen bewundern ihn, weil sie ihn fürchten, die Mitschüler hassen ihn, weil sie ihn begreifen, und er selbst verachtet sich, weil er sich nicht begreift. Er merkt, dass Wissen nichts bedeutet, dass Wissen nur der schönste Name für Krankheit ist. Und dass weniger bleibt, das verstanden zu werden verdiente, je mehr man weiß.
Er rennt weiter, immer schon rennt er: Durch Straßen, durch ihm gegebene Räume, durch ihm gegebene Gedanken. Und irgendwann beginnt er, das Chronoton zu spritzen.
Nicht aus Schwäche, sondern aus Notwendigkeit, weil das Denken zu langsam geworden ist, weil das Gehirn den Körper bremst, weil die Welt nicht Schritt hält. Chronoton beschleunigt, macht das Denken schärfer, die Zeit dünner, die Wahrnehmung reiner. Natürlich zersetzt es ihn. Aber das stört ihn nicht, im Gegenteil, er findet Gefallen daran, weil Zersetzung Bewegung ist, ein Prozess. Kein Stillstand. Er spritzt es jeden Morgen, jede Stunde, jede Minute, nicht weil er es spritzen muss, sondern weil das Spritzen-Müssen selbst seine Identität geworden ist. Sein liebster Prozess.
Die Welt draußen, diese sirupgleichen Gestalten. Sie werden sich bewegen wie unter Wasser, werden sprechen wie im Schlaf, werden arbeiten, wie nur Tote arbeiten können, und er wird sie hassen. Er wird sie Menschen nennen, aber er wird wissen, das Wort wird eine Beleidigung sein. Die Menschen werden warten. Auf was, wird auch er nicht wissen, auf das Ende vielleicht, die Erlaubnis, aufzugeben, und er, der sich für besser halten wird, wird nichts anderes sein als der Endpunkt ihres Wartens. Er wird immer Neunundneunzig Komma Neun periodisch sein. Die Zuspitzung ins Unendliche.
Er wird beginnen, alles in Einzelbildern zu sehen, als sei die Welt eine Filmrolle, schlecht belichtet, falsch geschnitten, und niemand wird es merken, alle werden dieselben fehlerhaften Bilder sehen und sie für Wirklichkeit halten. Er wird manchmal lachen, aus Überlegenheit, aus dieser Gewissheit, dass er schneller sein wird, und das Lachen wird klingen wie ein Motor, der überdreht.
Er wird wissen, dass er nicht ewig so weitermachen können wird, aber das Wissen selbst wird mit Chronoton kein Hindernis mehr sein: Wissen wird nie mehr ein Hindernis sein, Wissen wird Treibstoff sein, Wissen wird Brandbeschleuniger sein, und er wird das Brennen lieben, die Hitze der Erkenntnis, dass er sich selbst überholen wird. Er wird davon leben, sich zu verbrennen, und die Asche wird ihm Beweis sein, dass er existiert haben wird. Er wird sie manchmal sehen, auf der Tischplatte, zwischen Löffel und Feuerzeug: Die Asche, die nicht von Zigaretten stammen wird, sondern von ihm selbst, und er wird sie wegpusten, ohne Bedauern, als wäre sie der Staub eines alten Gedankens, den er längst vergessen haben wird. Er wird zur Nadel greifen.
Er wird kaum noch sprechen, weil das Sprechen zu langsam sein wird, und wenn er sprechen wird, dann wird er nicht reden: Er wird ausstoßen, ein Wettrennen der Sprache gegen sich selbst. Und niemand wird ihn verstehen, nicht nur weil man ihn nicht verstehen werden will, sondern vor allem weil man ihn nicht erreichen werden will, er wird architektonische Sätze bauen, Festungen aus Sprache, so stabil, so unbezwingbar, dass kein Einwand hindurchkommen wird. Hauptsache er wird weiter machen können, weiter spritzen, immer weiter machen.
Manchmal wird er sich erinnern an die Schule, an das Klassenzimmer, das wie eine kleine Fabrik funktionierte, mit Befehlen, mit monotonem Lärm, und er wird wissen, dass er dort zerbrochen war, aber gleichzeitig wird er wissen, dass das Zerbrechen notwendig gewesen war, weil erst aus dem Bruch der Klang entstehen wird, und er wird Klang sein, reiner Klang, ein Denken in Schwingungen. Er wird sich erinnern an die Frau, die ihn angesehen hat, mit diesem mitleidigen Blick.
Er wird sie alle wiedersehen, in seinen Träumen: Die Lehrer, die Mitschüler, die Therapeuten, die Eltern, das ganze Heer der Guten, der Wohlmeinenden, der Stabilisierer, und er wird wissen, dass sie alle dasselbe wollen werden: ihn stillstellen, ihn glätten, ihn einfügen in diese große, graue Gleichung, in der jedes Element austauschbar sein wird. Und er wird sich weigern, kategorisch, bis zum Schluss. Er wird nicht lösbar sein, nicht vereinbar, nicht lesbar, er wird Rauschen bleiben, Störung, Interferenz. Er wird das Chronoton bleiben und umgekehrt.
Und er wird gelaufen sein. Er wird nicht mehr gelaufen sein, um anzukommen, er wird gelaufen sein, um nicht stehenzubleiben, um das Laufen selbst zu spüren, um die Welt als Strom unter sich zu fühlen. Er wird gelaufen sein, bis der Asphalt geflimmert haben wird, bis die Häuser verschwommen sein werden, bis der Himmel kein Himmel mehr gewesen sein wird, sondern eine Fläche, die sich mit ihm gedreht haben wird, eine Projektion seiner Geschwindigkeit.
Er wird sich göttlich gefühlt haben, ja, er wird gedacht haben, vielleicht werde ich das gewesen sein, vielleicht werde ich der Gott gewesen sein. Ich werde der Gott gewesen sein. Ich werde der Gott gewesen sein in jeder Dosis, jedem Nadelstich werde ich der Gott gewesen sein, ich werde der Gott gewesen sein, bis nichts mehr vom Chronoton und damit nichts mehr von mir übrig sein wird.
Er wird sich Sätze zugesprochen haben, lange, komplizierte Sätze, in denen jedes Wort eine Verteidigung gewesen sein wird, und die Sätze werden gekommen sein, ja, sie werden in den Sinn gekommen sein, aber sie werden bald keinen Sinn mehr gemacht haben, sie werden auseinandergefallen sein, schon im Mund, und er wird verstanden haben, dass die Sprache sich gegen ihn gewendet haben wird, dass sie ihn verraten haben wird. Wo steckt es nur, das feine Pulver?
Er wird dann nach der Sprache das Denken selbst gesucht haben, Denken wie er es zum Ersten Mal in der Dachkammer erlebt gehabt hatte, dieses scharfe, messerartige Denken, das keine Form brauchte – aber das Denken wird nicht gekommen sein, es wird weggeblieben sein, und die Leere, die sich stattdessen ausgebreitet haben wird, wird keine Leere im Kopf gewesen sein, sondern im Körper, in den Muskeln, Leere in den Adern, das Chronoton wird sich bald fertig zersetzt haben und deshalb wird es bald aufgehört haben, ihn mit sich zu tragen.
Er wird sich verzweifelt gesetzt haben. Zum ersten Mal seit Jahren. Und er wird gedacht haben, dass das Sitzen Verrat gewesen sein wird, ein Eingeständnis der Niederlage, aber er wird sitzen geblieben sein, nicht weil die Beine nicht mehr gehorcht haben werden, sondern weil das Blut nicht mehr vergiftet gewesen sein wird.
Er wird die Hände gesehen haben, die gezittert haben werden, er wird sie angesehen haben, als gehörten sie jemand anderem, denn all die Jahre gehörten sie dem Gift, und er wird gedacht haben, dass auch das Zittern nichts weiter gewesen sein wird als ein anderer Ausdruck in der Sprache der Zersetzung, eine Metapher für Müdigkeit. Es wird nur der Anfang des Entzugs gewesen sein werden.
Er wird an die Welt gedacht haben, die klebrige Welt, die er verachtet haben wird, und plötzlich wird da kein Hass mehr gewesen sein, kein Ekel, keine Überlegenheit, nur Stille, eine Stille, die kein Frieden gewesen sein wird, sondern bloß das Fehlen von Geräusch.
Er wird nicht gefallen sein. Er wird gerutscht sein, langsam, fast zärtlich, in sich hinein, in eine Art inneres Dunkel, das nicht gedroht, sondern gelockt haben wird. Und er wird sich locken gelassen haben, weil sein Wesen schwach gewesen sein wird, ganz ohne die Droge.
Die Tage danach werden grau gewesen sein, gleichmäßig, geräuschlos. Er wird noch aufgestanden sein, aus Gewohnheit, dem Restprogramm eines abgeschalteten Systems.
Er wird sich bewegt haben, gegessen haben, geschlafen haben, ohne Hunger, ohne Müdigkeit, bloß, weil der Körper es getan haben wird. Er wird sich bewegt haben, wie eine Maschine, die vergessen haben wird, wofür sie gebaut geworden war. Das Chronoton war sein Code gewesen.
Er wird sich im Spiegel gesehen haben, und das Gesicht wird zurückgekehrt gewesen sein, aber zu vollständig, als hätte jemand ein neues über das alte gelegt, und er wird gewusst haben, dass das Schlimmste nicht der Verlust gewesen sein wird, sondern die Wiederkehr, Wiederkehr der Normalität.
Er wird das Chronoton verzweifelter gesucht haben, er wird wieder aufgestanden sein, gegangen sein, einen Fuß vor den anderen gesetzt haben, so, wie man es ihm beigebracht hatte als Kind: Geh, Junge, geh, das Gehen sichert den Fortschritt, aber das Gehen wird bloß Mechanik gewesen sein, ein Restreflex, und jeder Schritt wird hohl geklungen haben, als wäre er auf einer Bühne gelaufen, auf Brettern, unter denen nichts gewesen sein wird. Nicht einmal seine Drogen werden unter den Dielen seiner Wohnung gewesen sein.
Die Gesichter auf der Straße wird er nicht mehr richtig gesehen haben, sie werden Flächen gewesen sein, Spiegelungen, Reflexe, alle gleich, alle mit derselben Bewegung, demselben Ausdruck, demselben Lächeln, das nichts gesagt haben wird, und er wird sich gefragt haben, ob er je anders gewesen sein wird, ob das Laufen, das Denken, das Rasen je etwas anderes gewesen sein wird als ein verzweifelter Versuch, sich einzureden, dass er mehr gewesen sein wird als sie, dass er tiefer gesehen haben wird, schärfer gefühlt haben wird, schneller begriffen haben wird, dass seine Überheblichkeit nicht bloß ein Symptom, sondern ein Beweis gewesen sein wird, Beweis seiner Existenz, seiner Besonderheit, seines Unterschieds.
Aber da wird kein Beweis mehr gewesen sein, nur Wiederholung, nur Bewegung ohne Ziel.
Und er wird sich erinnert haben an die Sätze, die er früher gebaut haben wird, architektonische Sätze, Festungen aus Sprache, so stabil, so unbezwingbar, dass kein Einwand hindurchgekommen sein wird.
Er wird sich umgesehen haben. Die Stadt wird dieselbe gewesen sein, die Fenster, die Straßen, das Licht, das in Wellen über das Kopfsteinpflaster gelaufen sein wird, dieselbe falsche Sauberkeit, die er immer gehasst haben wird. Und doch wird er keinen Hass mehr gespürt haben, nur eine Art gleichgültiger Zärtlichkeit, die ihm fremd gewesen sein wird.
Er wird immer weitergegangen sein, erst noch um Chronoton zu finden, später nur um des Suchens Willen, und plötzlich wird ihm aufgefallen sein, dass niemand ihn angesehen haben wird. Nicht, weil sie ihn ignoriert haben werden, sondern weil er tatsächlich unsichtbar geworden sein wird, unter dem Tempo.
Er wird stehen geblieben sein vor einem Schaufenster, wird das Glas betrachtet haben, und das Spiegelbild darin wird schwach gewesen sein, sein Abbild verschwindend gering, unter all den Stichen nicht erkennbar. Und für einen Moment wird er gedacht haben, dass das vielleicht das Ziel des Chronotons gewesen sein wird - das Denken, das Rennen, das Verbrennen: das Verschwinden.
Und er wird gelacht haben, kurz, ein Laut ohne Freude, weil er gewusst haben wird, dass selbst dieses Lachen nicht mehr von ihm gekommen sein wird, sondern aus einer Restreaktion des Körpers, einer Erinnerung daran, wie man gelebt haben wird.
Er wird weitergehen, bis die Straße endet, bis da nur noch ein Feld ist (leer, braun, aufgerissen) und er wird in der Mitte Kreise drehen, wird in den Himmel schauen, der sich über ihm überdehnt, flach und ohne Farbe. Und er wird denken, dass er zwar nie ein Ende gewollt hat, aber ein Ende das Einzige sein wird, was bleibt.
Er wird die Augen schließen, wird holprig einatmen, weil er das Einatmen erst lernen muss.
Und er wird so im Kreis laufen, lange. Irgendwann wird es beginnen zu regnen, erst ein Tropfen, dann viele, und er wird sie fallen lassen, über Gesicht, Hände, Kleidung, er wird sich von ihnen säubern lasen.
Und als der Regen stärker wird, als alles um ihn herum in ein gleichmäßiges Rauschen übergeht, wird er denken, dass das vielleicht die Welt ist, die er immer gesucht hat: Nicht schnell, nicht langsam, nicht widerwärtig, nicht schön.
Die Welt wird einfach da sein, formlos und indifferent.
Und er wird keinen Satz mehr denken, kein Wort, nicht einmal einen losen Begriff, weil Sprache in dieser neuen Welt nichts mehr bedeutet, weil diese Welt selbst endlich ohne Bedeutung ist, ohne Chronoton.
Er geht dort, bis der Regen nachlässt, bis der Himmel wieder hell wird,
kein Gedanke, kein Geräusch, kein Schmerz,
nur der Körper, der geht,
weil er immer gegangen ist, aus Zwang.
und weil vielleicht genau das das große, weltliche Geheimnis ist:
dass man gehen muss, solange man kann.
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