Ein letzter Kahlkopfvon Moritz Heidobler
Und mit ihrem roten Tuch schob sie das Kind in Kreisen, die keine Kreise waren, sondern Bögen.
I
Ein Bett aus Moos.
Ich trage den schweren Pardessus. Die walnussbraunen Oxfords. Den Deckenschal aus Kaschmir.
Auf meinem Bauch, unbeschädigt und glänzend:
Clara, Die Bassklarinette. Ohne Mund, wie immer.
Oben tanzen rostbraune Baumkronen.
Die Blätter winken.
Ich stehe. Im Dickicht weicht eine Gestalt meinem Blick aus.
Er ist also schon hier.
Alles dreht sich.
Der wasserbleiche Nebel bringt das rote Tuch.
Trägt es in mein Inneres.
Und erbricht es wieder.
Der Kahlkopf halt.
Lu, reg dich nicht immerzu auf.
Vergangenheit ist Vergangenheit, vorbei.
Ich verstehe schon.
Es ist ohnehin der Letzte.
Also, ihn suchen.
Am Waldweg drei Füchse.
Dunkelblaue Uniformen, ein gelbes W auf der Brust, Kalashnikows.
Man grüßt sich.
Ladislaus spricht von Erstauflagen des Zauberbergs.
Nein, danke. Herrn Mann finde ich eingebildet.
Er flucht.
Sie gehen.
Zifuk wandert durch meinen Kopf. Mein Kindheitsfreund und Therapeut.
Er wurde gestern unnötig ernst.
Empfahl mir, weniger Füchse zu sehen.
Sie wären für meinen Zustand sehr gefährlich, meinte er.
Genau wie das viele Denken.
Ja, ich denke wirklich zu viel.
Zumindest hier, in diesem großen Garten, wo die Füchse, die ja schon immer die Jäger waren, alles schießen, was sich regt.
Sogar die Blätter, die ruhig durch die Luft segeln, werden durchlöchert und dürfen keine Ruhe am Waldboden finden.
Also, weiter, ihn suchen.
Da, ein paar Fraktionsfüchse.
Habt ihr Claras Mund gesehen?
Bei den Rotkappen vielleicht?
Oder den Hagebutten?
Schüsse. Drei Stück.
Verpiss dich, es ist krieg verdammt!
Ach ja, der Krieg.
Die Fraktionsfüchse litten am stärksten, sagt man.
Damals, im dritten Dreiländerkrieg.
Und jetzt wollen ihre Jungen Vergeltung.
Ich gehe.
Vielleicht sollte ich Zifuk ernster nehmen.
Vielleicht sogar Lu.
Nein.
Es ist ohnehin der letzte.
Ich halte an.
Ein Fußabdruck.
Einfach gespaltene Hufe.
Groß und tief im Moos versunken, aber eindeutig erkennbar.
Es ist zu früh.
Ein eiskalter Windhauch streift meinen Hinterkopf.
Darin hallt das teuflische Lachen nach.
Ich zucke zusammen.
Hinter mir stürmen die Jäger aus den Gräben.
Werfen Granaten, schreien laut auf.
Seltsam, ich höre nichts.
Doch, eine Stimme.
Nicht im Wind, nicht im Gefecht, sondern hinter mir.
Etwas Vertrautes.
Vertrauter als mein Herzschlag sogar.
Ich drehe mich um.
Hallo Victor
Da, im Moos, dein Rücken.
Und da, der eine Fuchs, nicht der andere.
Er passt zu dir.
Wache Augen, scheues Gemüt.
Die Fähigkeit, nur im kahlköpfigen Wald zu existieren.
Auf meinem rechten Fuß krabbelt ein Borkenkäfer.
Hallo du
Wo ist der Oxford hin?
Egal.
Clara, ich möchte wieder Mangogelb tragen.
Wieder ein Feuerfisch sein.
Wieder nach Hause schwimmen, nach Peru.
Wo bist du jetzt zuhause?
Sie flüstert etwas.
Aber da fällt schon Regen.
Bäume rosten in Sekunden.
Und Moos verzieht sich in die Erde.
Was bleibt, ist grau und fahl.
Der Fuchs verschwindet in den Bau.
Und deine Gestalt verblasst, wie jedes Mal.
Ich bin gelähmt.
Aber wieso der Lähmung nachgeben?
Es ist doch ohnehin der letzte.
Die Angst schwindet.
Der Mut wächst.
Bewegung ist nicht mehr unmöglich. Ich eile hin.
Du hast einen Abdruck hinterlassen
Er riecht nach Mango. Nach Heimat.
Oh, meine Beine werden müd.
Der Kahlkopf halt.
Schon dreht sich alles.
Schon falle ich. und liege.
Die Heimat wird vom Augendunkel verschluckt.
Clara, wohin gehen die Füchse, gemeinsam mit den Kreisen, die keine Kreise sind, sondern Bögen, wenn es dunkel wird?
Dort hin, wo es hell ist.
II
Ein Bett aus Moos.
Ich trage den durchnässten, schweren Pardessus. Einen walnussbraunen Oxford. Den Deckenschal aus Kaschmir.
Auf meinem Bauch, unbeschädigt und glänzend:
Clara, Die Bassklarinette. Ohne Mund, auch jetzt.
Oben tanzen rostbraune Baumkronen.
Die Blätter winken.
Ich stehe. In der Ferne blitzen zwei Hörner auf.
Jetzt ist es aus.
Jetzt, wo doch Licht in den Nebel fällt.
Ich springe auf. Renne los.
Dort hin, wo es hell ist.
Der Faun verfolgt mich.
Ich schlage Haken, weiche gefallenen Füchsen aus uns überquere Bäche, doch er kommt näher, immer immer näher, bis mir sein Keuchen im Nacken hängt und sein Speichel um die Ohren fliegt.
Dann ein dumpfer Schlag ohne Schläger.
Victor, bleib stehen
Aber, Clara! ?
flüchte nicht, denn die Bögen haben kein Ziel, sondern eine Mitte
Ich bleibe abrupt stehen. Er ebenfalls.
Ich drehe mich um.
Rot glühende Augen.
Spitze Ohren.
Knabenhafter Oberkörper.
Geisbockartige Füße, an denen Blut klebt.
Jetzt verstehe ich
Und flüchte nicht mehr.
Ich wende mich ab.
Gehe auf eine Lichtung zu.
In deren Mitte steht ein einziger Baumstumpf.
Clara, jetzt gebe ich dir deine Stimme zurück.
Die Erde ist feucht.
Deine Stimmbänder, das Rohrblatt.
Es ruht im Mundstück. Wartet. Umschlungen von Moos.
Ich löse und befestige es.
Lange horche ich nach dem Pochen.
Bumm. Bumm.
Erst dann blicke ich auf.
Hunderte gefallene Füchse sind auferstanden.
Umringen mich. Lachen.
Fallen sich in die Arme.
Ach ja, auch die Krieger sind nur kleine Füchse.
Und auch ihre Herzen strecken sich nach dem Licht.
Nicht dem Schatten.
Man möchte dich hören, Clara.
Sicherheit fließt durch den Tragegurt in meine Zellen.
Eine warm quellende Freude macht sich breit.
Alle Stimmen, sogar die von Lu und Zifuk, die ja doch nur meine eigenen sind, verstummen.
Bis auf deine.
Du nimmst mich an der Hand.
Das erste Mal seit fünfzehn Jahren.
Spinnst dünne Fäden um meine Finger.
Führst sie zu den Klappen deines Körpers.
Spielst zaghaft die ersten Töne.
Findest den Atem wieder, wärmst die verkühlten Griffe.
Und geleitest mich gemächlich über die Lichtung.
Mit jedem weiteren sanften Ton löst sich alles um uns auf.
Die Bäume verschwimmen. Werden breiter. Mutieren zu Häusern.
Mit Fenstern und Vorhängen. Wo scheue Fuchsgesichter spähen.
Alle lauschen sie der Musik, die eigentlich keine Musik ist.
Sondern eine Wiederauferstehung.
Eine Verschmelzung.
Ein Weg aus dem Feuer der Vergangenheit.
Ich schließe die Augen.
Ich öffne sie wieder.
Da ist die Bassklarinette verschwunden.
Und du liegst in meinen Armen. Schaust mich an.
Mit den warmen Augen, die alles haben was fehlt in diesen Tagen, die so ermattend kalt sind wie Metall bei Minusgraden,
So, als wäre alles beim Alten.
Ja, es ist alles beim Alten.
Wir sind wieder Feuerfische.
In langen, flüssigen Kreisen, die doch eigentlich Bögen sind, gleiten wir über die Lichtung.
Ich weine.
Du weinst.
Wir reinigen uns.
Reinigen uns von den Bildern.
Das rote Tuch.
Unser kleiner Caspar, schreiend.
Der heiße Lauf des Revolvers an meinem Hinterkopf.
Ihr Befehl, nach unten zu sehen, wo du deine Bögen zogst und unbeirrt die Verse sprachst:
„Du Nachbar Gott, wenn ich dich manches Mal in langer Nacht mit hartem Klopfen störe…“ ,
bis sie kamen und dich holten.
Wir reinigen uns.
Langsam hören die Bilder auf zu schmerzen.
Sie hören auf, körperlich zu sein.
Der wasserbleiche Nebel fließt mit den Tränen hinaus.
Und etwas Neues betritt mein Herz. Etwas spürbares.
Deine Nackenhaare, die sich bei leichter Berührung aufstellen.
Berührung.
Mit jeder Berührung schaffen wir Töne.
Sie reihen sich wie junge Blätter an einen Zweig, der sich in ihnen erkennt.
Wiedererkennen.
Mit jedem Teil von dir, den ich wiedererkenne,
Spiele ich mich aus dem Blut und den Trümmern,
Aus den Tränen und den Träumen der dunklen Nacht,
Aus der Einsamkeit der Überlebenden
Und der Vergessenheit der Toten,
Spiele mich frei von jedem Groll und jedem Glauben,
Jeder Hoffnung und jeder Sorge,
Spiele mich völlig in den Moment,
In die Präsenz zweier Seelen hinein,
Die alles gibt und nichts will,
Die nichts zerstört und nichts erzeugt,
Die allem anderen die Bedeutung,
Und der Zeit die Macht über die Menschen nimmt.
Zeit.
Ich berühre deine Lippen.
Und halte die Zeit fest.
Und da, in dieser Zeitlosigkeit geschieht es.
Aus der Knospe am Ende des Zweigs beginnt etwas helles, etwas aller Grausamkeit entgegengesetztes zu erwachsen.
Etwas Fremdgewordenes.
Etwas, das durch die angespannten Glieder der Zuhörer geht und im Herzen nicht aufhört, sondern erst anfängt zu sein.
Etwas, das man Frieden nennen könnte.
Friede.
Die Traube öffnet sich.
Dort steht der grausame Faun, dem nun alles grausame fehlt.
Er weint, streckt seine lange Hand aus,
Und berührt Clara.
Jetzt kann ich ruhen, läuft es wasserbleich aus ihren Mündern heraus.
Überall ist wieder Nebel.
Mir ist wieder übel.
Mein Sichtfeld klafft auf.
Aus dem Riss dringt Dunkelheit.
Und verschluckt mich.
III
Ein Bett aus Federn.
Ich trage den schweren Pardessus. Die walnussbraunen Oxfords. Den Deckenschal aus Kaschmir.
Auf meinem Bauch, unbeschädigt und glänzend:
Clara, die Bassklarinette. Einen Mund braucht sie nicht mehr.
Oben baumelt die schwache Glühbirne.
Niemand winkt.
Ich stehe nicht mehr auf. In der Ferne höre ich Schüsse.
Und in mir den Faun, der sich auflöst.
Mit dem Wald.
Und dem Feuer der Vergangenheit.
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