Kommen und Gehen
Der Abend…, oder nein, besser die Nacht. Schließlich war es inzwischen kurz vor Mitternacht, und das konnte man wahrlich nicht mehr als Abend bezeichnen. Also die Nacht:
Die Nacht war bereits weit fortgeschritten und hatte die Welt in ihren trüb-schwarzen Schleier gehüllt, der sich mit jeder vollen Stunde tiefer über sie gelegt und sie schlussendlich gänzlich zum Stillstand gebracht hatte. Selbst der tagsüber sonst von ausgelassenem Kinderlachen und Vogelgezwitscher belebte Lindenweg träumte nun, einzig vom matten Licht der Straßenlaternen noch wachgehalten, schläfrig vor sich hin und wurde nur mehr vereinzelt von den letzten auf seinem Kopfsteinpflaster aufschlagenden Schritten gestört – zumindest so lang, bis jene Schritte in einen der vielen kleinen Vorgartenwege einbogen und ihr hohler Klang dort im nächsten Augenblick von einem der finsteren Hauseingänge verschluckt wurde. Doch während der Lindenweg noch in demselben Moment wieder in seinen vorherigen Dämmerungszustand zurücksank, erwachten seine Häuser dann erst vermehrt zu neuem Leben, wenn kurz darauf das Licht in ihren Augen aufblitzte und jede kleinste Regung in ihrem Inneren in einem lebhaften Spiel aus Schatten zu erkennen gab…
Und weiter? Immerhin bestand der Lindenweg aus gerade einmal drei Häusern, von denen auch ausschließlich das Haus Nummer 3 dem Leser gegenüber tatsächlich nennenswert wäre. Über dessen Bewohner gäbe es an sich nämlich viel zu erzählen. Für den wahrhaftig verständigen Leser aber wäre wiederum lediglich ein Bruchteil davon von wirklichem Interesse gewesen. Denn obgleich dort im Gegensatz zu den anderen, nahezu verlassenen Häusern wenigstens etwas geschah, so war es im Grunde genommen doch immer nur dasselbe, wenn auch mit Variationen, wofür das Ehepaar Schmitt aus dem zweiten Stock mit Sicherheit das plakativste Beispiel war. Schließlich stritten Herr und Frau Schmitt ihren wild gestikulierenden Schatten zufolge derzeit wieder, wie eigentlich jeden Abend, weil Herr Schmitt nie vor 23: 59 Uhr, dafür jedoch stets mit einer neuen Ausrede für seine Verspätung nach Hause kam. Wahrscheinlich schrie ihn seine Frau deshalb heute wohl auch wieder so besonders ausgiebig an. Da hatte der Herr Hofrat ein Stockwerk tiefer, der den Schmitts in Sachen Routine kaum nachstand, vermutlich sehr laute Musik aufgelegt, dass er von diesem Getöse scheinbar ungestört mit seinem Damenbesuch, wie bereits schon gestern Nacht, in dem ballsaalgroßen Wohnzimmer eng umschlungen auf und ab tanzen konnte. – Aber halt! Die Dame musste über Nacht ja mindestens zehn Zentimeter gewachsen und etwa ebenso viele Kilo abgenommen haben, ihrem Schatten jedenfalls zu urteilen, der nun für einen kurzen Augenblick neben dem seinen am Fenster verweilte, bevor sie im nächsten in dem dunklen Raum zwei Fenster weiter gemeinsam verschwanden und stattdessen zwei Stockwerke höher ein neues Schauspiel begann. Fräulein Weber war nämlich um Punkt zwölf Uhr in ihre kleine Dachgeschosswohnung zurückgekehrt, nachdem sie um 20: 17 Uhr mit zwei großen Umzugskartons aus ihr geeilt, ja regelrecht in den dichten Dämmerungsnebel geflüchtet war. Und dazu ließ sich bestimmt eine ordentliche Geschichte schreiben. Also dann:
. . . jede kleinste Regung in ihrem Inneren in einem lebhaften Spiel aus Schatten zu erkennen gab. Lediglich die kleine Dachgeschosswohnung des Fräulein W. tat es dem Lindenweg noch gleich. So ruhig und reglos lag sie da und ragte über die anderen Wohnungen hinweg in den wolkenverhangenen Nachthimmel hinein, dass es beinahe den Eindruck erweckt hätte, sie stünde mittlerweile schon zum vierten Mal binnen der letzten drei Monate leer, wäre nun nicht doch ein schwacher Lichtschein in ihrem Fenster aufgeglommen, der endlich die Rückkehr des Fräuleins verhieß und der Straße selbst jede ihrer Bewegungen fortan verriet – wie sie vorsichtig das Zimmer betrat, zögerlich den Hut mit der breiten Krempe abnahm und von dem Grauen der vergangenen paar Stunden völlig erschöpft in den Lehnstuhl sank, ehe sie dort in einen leichten Schlaf fie…
Doch nein! Ausgerechnet jetzt klemmte das L seiner alten Schreibmaschine, und Fräulein Weber hatte sich erst gar nicht in den Lehnstuhl gesetzt, sondern war nur an ihm vorbei - näher zum Fenster hingegangen, sodass sie ein letztes Mal noch sah, wie er verzweifelt an einer -ihrer- Geschichte schrieb, bevor sie in den frühen Morgenstunden wieder das „zu vermieten“-Schild in jenem Fenster aufhängte und für den Leser damit wohl eine neue Geschichte anfing.
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