Niko, oder Vom Kolonialismus erzähltvon Yuliia Obukhivska
In seinem transgenerationalen Unterbewusstsein liegt die Handelsroute „von den Warägern zu den Griechen“, die Taufe der Rus und der mongolische Einfall unter Khan Batu; die litauische Periode, abgelöst durch die Lubliner res publica im Jahr 1569; das Hetmanat, der Andrusowoer Waffenstillstand, der brennende Knotenpunkt beider Weltkriege, der schließlich in die Unabhängigkeit mündete — kurz im frühen zwanzigsten Jahrhundert, gefestigt am Ende desselben. Er erinnert sich nicht an die Züge in die Wilde Steppe, betont aber bei Gelegenheit, dass er frei ist; er kennt kein Leben ohne nationale Unabhängigkeit, doch seine Kultur achtet, verbreitet und priorisiert er bewusst.
Er ist längst nach Österreich gezogen, hat sich den Menschen hier angepasst und die Sprache vollkommen erlernt. Und doch heißt er Iwan — der beliebteste Name seines Landes; der ukrainische Johannes, jener, der Johannes der Täufer war. Auch in seiner Familie wuchs er religiös auf: die Dogmen der Orthodoxie kennt er auswendig, und seine Erziehung hat für jede Lebenslage eine eigene, sittliche und unerschütterliche Meinung.
Sein Äußeres — ein polesischer anthropologischer Typ , mit gerader Nase und markanten Wangenknochen. Eine individuelle Eigenheit — geschickte Finger, denn er spielt Gitarre, seit er, so scheint es, sieben ist.
Morgen (Iwan schaut auf die Uhr — kurz nach Mitternacht — also heute! ) ist der achte September. Das Studienjahr beginnt. Roter Ziegel — gebranntes Eisenoxid — ist ihm in den letzten vier Jahren vertraut geworden, und Grafikdesign hat sich vom Hobby zum Beruf gewandelt. Ob auch zur Berufung, weiß er noch nicht. Er wälzt sich, versucht seine Gedanken zu beschäftigen, kratzt sich unwillkürlich am Hals.
Er schluckt.
Dort — kleine, erhabene Narben direkt über der Halsschlagader, zwei fast runde Punkte. Die Finger gleiten tiefer, zu den Schlüsselbeinen — er erinnert sich an Bisse entlang dieser Linie, an Küsse auf den Grübchen, die hinab über das Sternum zum zuckenden Bauch führten. Er erinnert sich an Blut. An einen fremden festen Griff und sein wild schlagendes Herz. An hohe Kragen — sein ständiges Attribut — und an Verbände auf der zerschundenen Haut.
Iwan tastet die erhabenen Narben an seinen Handgelenken ab. Ihm kommt Angst, Schmerz, Freude. Angst, weil er nicht begreift: ob es ihn schmerzt oder freut, dass alles vorbei ist. Der Mundwinkel zuckt, er muss lächeln.
Iwan erinnert sich.
Wakuum — der Treffpunkt der Grazer Alternativen. Jener, deren Gesichter völlig weiß geschminkt sind und deren Lidstriche sich bis über die Wangen ziehen — im Match mit ihrem Musikgeschmack, nicht mit TikTok-Trends. Diese Bar steht für die Unterstützung von Underground-Bands, und obwohl Iwans Finger die Saiten wie selbstverständlich fanden (er ist sich nicht sicher, ob sie es heute noch tun), spielte er auf der Bühne erbärmlich. Nach seinen eigenen Maßstäben, natürlich. Denn mit Menschen und vor Menschen zu spielen — das ist etwas anderes. Das ist Ausbruch aus der Komfortzone, das ist Empathie, das ist Symbiose.
Lesja malte ihm Schwarz unter die Augen, glänzend die Lippen, und jenseits des Spiegels entdeckte sich ein weltweiter Rockidol. Iwan grinste schief, während er seine, im Grunde völlig unscheinbaren, Eckzähne betrachtete.
„Lesja, sehe ich aus wie ein Vampir?“, er sprach mit ihr auf Ukrainisch. Fragte und fletschte die Zähne.
Sie warf ihm einen seltsamen Blick zu (verurteilend, vielleicht? ) und schwieg. Daran war Iwan längst gewöhnt: Sie kannten sich seit ihrem ersten Tag in Österreich, also seit fast zwei Jahren. Genauso lange leiteten sie gemeinsam ein Projekt — eine Band, die sich immer wieder jemand Neues anschloss. An diesem Tag waren sie zu viert: ein neuer Schlagzeuger und ein Bassist für einen Abend. Iwan spielte E-Gitarre — arbeiten konnte und kann er nur, wenn das Instrument sechs Saiten hat. Und Lesja stand am Mikrofon; vom anderen Ende des Proberaums hörte man ihre Gesangsübungen: sie blubberte mit den Lippen, glitt über die Bs hinab bis zu ihrem Tiefsten (Iwan denkt, es ist das C der kleinen Oktave) und summte laut.
Sie spielten großartig. Das Tempo im Indie-Rock schwankt traditionell zwischen neunzig und hundertvierzig Schlägen pro Minute, und Iwan konnte sich nicht erinnern, sich damals auch nur einmal verspielt zu haben. Lesjas Stimme war rau, und auf der Bühne rauchte sie demonstrativ (Ville Valo oder Lana Del Rey? ), obwohl sie im Alltag verachtete, irgendetwas in den Mund zu nehmen. „Zur Vermeidung freudscher Fehlinterpretationen“, sagte sie . Ihre Stimme, eher Alt als Mezzosopran, und in einem bestimmten Moment intonierte Iwan mit ihr.
Sie verneigten sich im Applaus, bahnten sich einen Weg durch die aufgeregte Menge. Es war ihr dreizehnter Auftritt oder so, und da in ihrem monolithischen Duo kümmerte sich Lesja um PR, kannte man sie längst in den sozialen Medien. Da Iwan (Gott sei Dank, noch immer) Grafikdesign studierte, trugen manche sogar ihren Merch.
Er bestellte sich Wein. Plötzlich sammelte sich um ihn eine ganze Menge Menschen, die sich für ihn interessierten, und er ermutigte ihre Small-Talk-Versuche immer wieder mit einem Lächeln. Mit einem Auge beobachtete er Lesja, die in der Ecke saß und in den Himmel starrte. Sie brauchte das — fünf Minuten zum Ein- und Ausatmen. Damit die Gedanken vom Schreienden wieder in den normalen Bereich zurückfanden.
Iwan ließ sich ablenken: Er lächelte seinem Gesprächspartner zu, antwortete irgendetwas Unpassendes. Es war ein Mädchen — Kategorie Gop-Goth (unter ihrer Adidasjacke lugte ein schwarzes pseudo-viktorianisches Kleid hervor) und von opportunistischem Wesen. Erfahrung hatte sie, wie man so sagt, massenweise, doch alles war irgendwie mit Clubkultur verbunden. Iwan war überhaupt kein Clubgänger; wenn er in Bars auftauchte, dann in Gesellschaft oder aus Anlass. Wie eben diesmal. Er warf wieder einen Blick auf Lesja. Sie saß nicht mehr allein. Der Typ war, schätzte Iwan, eineinhalb Köpfe größer als sie, in Mantel, mit Ringen an den Händen — ein Versuch von Boheme-Stil. Warmes Licht hob seine wahrscheinlich blasse Haut hervor, betonte das avantgardistische Gesicht.
(Na, Iwan, hast du dich festgeblickt? )
Lesja verzog eine Grimasse. Iwan interpretierte.
Sie war in Beziehungen streitlustig — eher Situationships als wirkliche Partnerschaften, nie etwas Ernstes — und unerwartete unangenehme Begegnungen waren für sie nichts Neues. Graz ist schließlich eine kleine Stadt, und man hat das Gefühl, jeder kennt jeden. Iwan verabschiedete sich von seiner Gesprächspartnerin und ging zu Lesjas Tisch. Er richtete seine Jacke, damit sie seriöser wirkte — oder vielleicht einfach aus Nervosität. Seltsam überhaupt, dass alle ihre Jacken anhatten. Es war der sechste Juli, mitten im Hochsommer. Doch der Tag neigte sich schon dem Ende zu, ging über in die Nacht des heiligen Johannes (seinen Signaturtag), und die Sonnenwende schützte nicht mehr vor Kälte.
Lesja war gegangen, noch bevor er überhaupt aufgetaucht war. Nach so einem entschlossenen Abgang umzudrehen wäre irgendwie falsch gewesen — und, ehrlich gesagt, peinlich. Iwan setzte sich neben diesen Typen (äußerlich wie der junge Johnny Depp), und in seinem Kopf klickte es. Denn rein beschreibend — genau wie der Letzte:
„Bist du zufällig Albert?“ — Die Stimme kam aus dem Zwerchfell, klang tiefer als sonst.
„Nein“, — der Typ hob den Blick, — „ich bin Nikolas“, — und reichte sofort die Hand.
Seine Art zu sprechen — fast altmodisch, zu sehr geschult. Straffe Stimmbänder gaben dem Klang Kraft, und Nikolas schien auch seine Resonanzräume perfekt zu beherrschen. Iwans Gesicht wurde etwas weicher: Lesja hatte mit keinem Nikolas etwas am Laufen gehabt. Also schüttelte er ihm doch die Hand.
„Iwan“, — der Tonfall verriet Erstaunen, es klang fast wie eine Frage.
„Ich weiß“, — grinste Nikolas. Etwas ausgesprochen Burtonhaftes lag in seiner Mimik — man wollte ihn sofort festhalten, zeichnen, verewigen. — „Ich bin übrigens ein großer Fan. Von eurer Band — Ospizio Satanico, meine ich“, — er öffnete mit einer lässigen Bewegung seinen Mantel, und darunter kam ein alles andere als orthodoxes Motiv zum Vorschein. Iwan kannte es schmerzhaft gut. Wie viele Energydrinks es gekostet hatte, das Ding vektoriell in Adobe Illustrator nachzubauen, wollte er lieber gar nicht zählen. — „Gibst du mir ein Autogramm?“
Nikolas zog aus der Brusttasche einen Filzstift. Hatte der Kerl das etwa geplant? Iwan sah genauer hin — ein Textilmarker, offenbar. Die Antwort auf seine unausgesprochene Frage ergab sich von selbst:
„Wo?“ — fragte er trotzdem.
Sein Blick blieb an den Händen hängen, das Denken setzte kurz aus. Am Ringfinger — ein Schmuckstück. Ach ja, medizinisch betrachtet ein anatomisch falsches Skelett; so einem Antrag würde es an Präsentabilität fehlen.
„Auf dem T-Shirt“, — Nikolas’ Gelassenheit ließ Zweifel an seinem klaren Verstand aufkommen. Hoffentlich keine Pilze.
Iwan unterschrieb.
Im nächsten Moment wurde er von hinten weggezogen — der Bassist, wie sich herausstellte. Das hastige Lebewohl kam auf Italienisch heraus. Die Antwort war ein präzises deutsches „Auf Wiedersehen“, das er nicht weiter ernst nahm. Nikolas’ Kontakt hatte Iwan nicht, und selbst wenn — (vermutlich) hätte er nicht geschrieben.
Doch Nikolas — Nikolas war der Neue in ihrer Klasse. Im vierten Jahr ein echtes Phänomen, zumal er zuvor keinen einzigen Tag an der Ortweinschule verbracht hatte. Er war in Iwans Leben aufgetaucht wie eine Monopoly-Karte „Chance“ auf einem Schachbrett. Einerseits — eine Gelegenheit, den eigenen Gemütszustand zu verbessern, den Freundeskreis um ein neues Gesicht zu erweitern. Andererseits — was, zum Teufel, hatte er hier zu suchen?
Wort um Wort, Thema um Thema — das Gespräch entzündete sich, metaphorisch, wie ein Streichholz: ebenso schnell verglühte es. Iwan kam nicht dazu, nach Lesja zu fragen — er ließ sich ablenken. Starrte Nikolas offen an, ohne zu begreifen, warum. Ja, Nikolas gefiel ihm. Und nicht nur ihm. Eine natürliche Ausstrahlung hatte seine Bewegungen geschärft, Arme und Beine verlängert — und da er selbst den überdurchschnittlich großen Iwan noch überragte (verfluchter Wolkenkratzer, österreichischer Eiffelturm! ), war es unmöglich, ihn nicht zu bemerken.
Nikolas spürte die Blicke. Vor allem solche: Stechend im Rücken. Er antwortete Iwan stets mit einem scherzhaften Unterton. Seine Kieferlinie scharf, der Kopf leicht gedreht, Dreiviertelprofil, seine beste Seite. Die Faust stützte die Wange und dadurch ging sein Blick spielerisch von unten nach oben. Sein Haar reicht bis zu den Schultern und hat die Farbe brauner Sepia — also RAL 8014. Wie zufällig drehte er eine Strähne zwischen den Fingern, beobachtete die Reaktion, wiederholte. Iwan schluckte jedes Mal, nach ein paar Wochen war daraus ein konditionierter Reflex geworden. Denn Nikolas war in sich selbst der neutrale Reiz, aber seine Stimme, seine verdammten Finger und seine reißzahnähnlichen Zähne — der unkonditionierte, überwältigende, vernichtende Reiz. Iwan begann sich zu fragen, warum mit Nikolas (für ihn inzwischen einfach Niko) alles so grell war. Im Bauch flatterten Schmetterlinge, vor den Augen tanzten weiße Punkte. Die Hände zitterten und wurden kalt, eine Laune des sympathischen Nervensystems, eine Folge der Gefäßverengung.
Niko gefiel allen, und er mochte offenbar auch alle — also mochte er niemanden. Seine leicht mandelförmigen Augen glitten interessiert über die Studenten, einige schon ein wenig bekannt, doch an keinem blieben sie hängen. Und dann, diese Muttermale, zum Anfassen. Der Herzschlag war in der Kehle spürbar, klang wie eine barocke Glocke — doch für wen läutete sie?
Die Erkenntnis traf ihn wie eine Ohrfeige und Iwans Wange rötete sich (merkwürdig, nur die eine).
Noch merkwürdiger: es gab Berührungen. Manchmal setzte sich Niko neben ihn, und wenn er aufstand, streifte er scheinbar zufällig sein Bein. Manchmal, lachend, packte er ihn an der Schulter — so fest, als würden sich seine Finger in die Haut krallen. Doch seine Zuneigung zeigte er vorsichtig, fast spielerisch; verlockte Iwan mit seinen Blicken, aber immer nur ganz kurz, hielt die Hand nur so lange, dass Iwan keine Zeit hatte zu spüren
— wie kalt sie war.
Iwan spult die Erinnerungen zurück, öffnet sie, stülpt sie um. Versucht zu begreifen, wann genau sich sein Leben in „vor“ und „nach“ teilte. Vor Niko und nach.
Es scheint, so etwas gibt es wirklich.
Dann schoss Iwan durch den Kopf — o bozhe — und er bemerkte erst jetzt, dass sie allein im Klassenraum waren. Zugluft; die Türen fielen ins Schloss; aufgebissene Lippen formten den nächsten Gedanken: „bozhe, pomozhy!“ . Blick traf Blick, wie die beiden Pole einer Batterie — sie zu trennen wäre möglich, aber nur mit bemerkbarer Kraft. Beide schwiegen. Beide dachten, und das Denken fühlte sich an wie physischer Druck gegen die Schläfen. Iwan fragte sich, wie seine kognitiven Funktionen so versagt hatten, und ob er die ganze Zeit auf Niko gestarrt hatte oder, Gott sei Dank, einfach nur mit nachdenklichem Gesicht dagestanden war. Und Niko war nicht er selbst: zum ersten Mal wusste er nicht, wie er das Gespräch beginnen sollte. Natürlich hatte er gemerkt, dass man ihn ansah und fürchtete, diese Pfauenfeder von einem Moment könnte zerbrechen. Die Konzentration der Peinlichkeit wirkte fast wie ein Nervengift, doch keiner von beiden wich zurück.
Schließlich sprach jemand an ihrer Stelle:
„Oh, ist dieser Raum besetzt?“ — Iwan erkannte in dem Mädchen Ella nicht gleich. — „Entschuldigt!“
Wieder ein Türknall. Ernüchternd.
„Was haben wir jetzt?“, fragte Iwan gedankenverloren, als ihm plötzlich einfiel, wobei sie gerade waren. Schon in der Mitte des Satzes erinnerte er sich an den Stundenplan, konnte also die Antwort voraussehen, und lächelte deshalb verlegen.
„Freistunde“, antwortete Niko gedankenlos und griff sofort das Gespräch wieder auf: „Iwan, wir haben doch morgen den Deutschtest? Kannst du mir erklären…“, ihm fehlten die Worte; ihm wurde klar, dass er offen Unsinn geredet hatte.
Iwan staunte:
„Ich? Ich denke, es wäre besser…“, — sich an jemand anderen zu wenden wollte ihm von der Zunge fließen, doch rechtzeitig stoppte er den Gedanken. „Natürlich, klar. Worum geht’s?“
Niko zog seinen Collegeblock heraus und begann leise vorzulesen. Iwans freie Assoziation war naturgemäß — Schüler, Lehrer, Rollenspiel; Unverständnis, Scham, weil er seinem small sin bisher nie eine solche emotionale Färbung gegeben hatte. Die Wangen glühten wie im Inquisitorenfeuer , der Adamsapfel zuckte reflexartig.
Niko hörte das pochende Herz Iwans — wie seine sanguinische Quelle zu spielen, zu beben begann. Er warf einen kurzen Blick über den Block hinweg und grinste verschmitzt, sodass die Eckzähne blitzten. Wie selbstverständlich lehnte er sich an den Tisch an. Halbsitzend, halbstehend, war er immer noch aufrecht und überragte Iwan, gleichzeitig mit einer offenen, präsentierenden Körperhaltung. Ein Blick auf den Schritt, historisch bedingt, wurde in seinem kribbelnden Unterbewusstsein immer erkannt. Der Nacken juckte plötzlich. Das Grinsen bekam einen fiesen, wissenden Unterton.
Iwan wippte von einem Bein aufs andere, traute sich nicht zu fragen, wann er — Hospody, probatsch meni — endlich Platz nehmen würde. Denn heimlich auf fremde Oberschenkel zu starren und vermehrten Speichelfluss zu spüren — eine, sozusagen, mittelmäßige Erfahrung und alles andere als tugendhaft.
(Nun ja, Iwan, solange niemand zusieht, ist es noch nicht so schlimm) — hier wirkt die Erziehung ein wenig dämpfend.
Er hielt höchstens eine halbe Stunde durch, am Ende murmelte er schon offen halbrichtige, halbvernünftige Antworten. Dann rief ihn jemand an und Iwan schoss, den Kopf entschuldigend neigend, wie ein Pfeil aus dem Klassenzimmer. Es war unerträglich schwer zu atmen und die Gedanken, längst ohne Satzzeichen, ignorierten nun sogar die Leerzeichen.
„Hallo?“, die Stimme riss leicht.
„Hast du‘s eilig, Iwan?“, aus dem Lautsprecher kam ein Kichern. „Also, wir haben Pizza bestellt. Willst du kommen? Wir sind im Zimmer, äh, ich sage dir gleich… sechs-eins-zwei.“
„Danke“, sagte er eher automatisch; sofort entstand ein innerer Konflikt: Zurück ins Klassenzimmer und Niko holen (Bonusaufgabe: Die Augen nicht an den Oberschenkeln kleben lassen; interessant, warum gerade heute Nylon ? ), oder einfach gehen. Und während der gleichgültige Iwan durchaus gehen wollte und sich schon auf den Fersen umdrehte, stach die Erziehung irgendwo unter dem Zwerchfell. Verräterisch, wie ein Messer in der Leber. Denn Iwan — ein braver Junge — wurde gelehrt, anderen Gefallen zu tun, bis die Höflichkeit zusammen mit der Geduld platzte. Er war es gewohnt zu glauben, dass seine Ruhe ein Diamant sei, stark; schade, dass er sich vom fröhlichen Glanz des Materials täuschen ließ. Die Spitze des Hammers rieb sich an der porzellanartigen Oberfläche seiner imaginären inneren Schale, voll von Empfindungen, leer an Eindrücken (Muttermale berühren, berühren, berühren). Gegen Kohlenstoffstahl hatte er eine Chance von zwei zu tausend, und Iwan war natürlich nicht völlig dumm…
Er atmete tief durch, konnte das Zittern dennoch nicht abstellen. Mit mechanischem Nachdruck setzte er einen Schritt nach dem anderen, noch bevor er sich die Frage stellte, ob er Nikos Anwesenheit erneut ertragen könne. Die Tür stand weit offen; Iwan betrat sie, jedoch zurückhaltend, setzte sich seltsamerweise sofort und begann, seine Sachen zusammenzupacken. Die Einladung nahm er eher beiläufig wahr.
Niko trat ebenfalls kühl auf. Seine Bewegungen waren präzise, durchdacht, wie mit einem Skalpell die Bauchhöhle öffnend; Iwan starrte auf die Hände — lange Finger (das Herz setzte zwei Schläge aus, weder Vorhöfe noch Kammern kontrahierten); eine bläuliche Ader teilte die äußere Handfläche in zwei Hälften, verschwand irgendwo zwischen den Fingerknöcheln — natürlich Ästhetik. Mit solchen Händen könnte man Musik machen. Sie würden einen Apfel halten, ohne sich zu verbiegen.
Iwan erinnerte sich an seine ersten Unterrichtsstunden. Sein Trumpf — Musikerhände, sinnlich, schnell, geschickt. Nur wozu sie helfen könnten, blieb unklar. Niko hatte darauf offenbar keinen „Kink“. Trotzdem — er gehörte zu den latenten Nonkonformen, trug kein Total Black, aber schleppte sich zu Underground-Konzerten. Mit einem Rockstar etwas anzufangen — ist das nicht ein Traum?
Nikos Stimme — ein trockenes „nein“ — und Iwan kratzte es im Hals —
sag mir nicht, dass wir diesen momentanen Wahnsinn nicht zu zweit geteilt haben; tu nicht so, als hättest du in jenem Moment nicht gespürt, wie die Luft endete und vor den Augen ein Wirbel von Tanzschritten explodierte. Zerschlagene Porzellanstücke — zuerst ohrenbetäubend, dann scharf; er trat darauf mit perverser, masochistischer Freude. Mit Emotionen ist es immer so: entweder nach außen oder tief nach innen.
Iwan bemerkte nicht, wie sie sich verpassten. Er bemerkte nur, dass Niko in den zwei folgenden Tagen abwesend war.
Als Niko dann vorschlug, im Fotounterricht zusammenzuarbeiten, glitt das „ja“ mühelos von seinen Lippen. Blitzschnell, wie ein Schuss aus einer Beretta, ebenso betäubend; Iwan hatte nicht einmal Zeit, sein Erstaunen zu äußern — es ergriff ihn von innen und verhedderte sich mit seinem Denken, das wie eine alte Ratte durch die Ecken huschte . Wieder nickte er mechanisch und begann, die Lampe einzustellen.
Im Halbdunkel des Raumes spielte Nikos Gesicht mit neuen Farben, dicht und herb. Rembrandts Licht hinterließ ein weißes Dreieck unter dem Auge; Schatten betonten seine Wangenknochen, hoben die Linie der Nase hervor. Sein Haar schimmerte bronzefarben, Strähnen fielen auf die Wangen und verdeckten zufällig die Muttermale (Muttermale berühren, Muttermale berühren). Die Flügel seiner Nase weiteten sich bei einem gerissenen Atemzug. Iwans Fehler: Jetzt waren ihre Blicke ineinander. Der Mund öffnete sich leicht in stummem Erstaunen, und Iwan sah Niko auf besonderer Weise an, mit einem undefinierbaren Gefühl. Wie ein Kätzchen, das bereits Krallen gewachsen hatte, aber noch nicht gelernt hatte zu beißen. Nikos Pupillen weiteten sich unaufhaltsam — Spiel der Lichter oder nicht? — und füllten in jenem Moment die Regenbogenhaut, flossen wie Tinte auf die weiße Leinwand.
Vermehrter Speichelfluss. Verdammtes Softbox-Licht.
Iwan schluckte; der unkonditionierte Reiz klickte als Verstärkung des Reflexes. Unvorsichtig zog er die Hand zurück — sie stießen mit den Fingern zusammen; Niko zuckte zusammen, als wäre er verbrannt.
Er drehte sich abrupt weg, wollte Iwan weder sehen noch kennen. Dem Zeigefinger des Lehrers folgend, warf er ein Bein auf die Kiste und richtete den Oberkörper halb sitzend, halb stehend auf. Iwan erlebte ein wenig überraschendes Déjà-vu und gleichzeitig das merkwürdige Wiederholen seiner Gedanken. Schön bis zur Gottlosigkeit — endlich gestand er es sich selbst!
Die Hände bewegten sich schon von selbst. Berührung an der Schläfe und hinunter; unter den Fingern — die raue Oberfläche des Muttermals (damals nutzte Iwan offenbar seinen monopolaren „Chance“-Moment), dazu noch Haut, glatt und kühl wie Marmor. Iwan dachte unwillkürlich und beiläufig, dass Niko kein Mensch sei, sondern Kunst in nahmenschlicher Gestalt. Eine ästhetische Singularität, die tausend Jahre später nichts von ihrer Relevanz eingebüßt hat. Niko bewegte sich nicht. Leckte sich allenfalls die Lippen. Verfolgte die Finger unablässig. Und Iwan — verdammte Amnesie; er verpasste den Moment, als seine Hände schon den Weg zu den Lippen gefunden hatten, über die Nasolabialfalte glitten und abrupt inne hielten. Nikos Atem war nicht als Kälte auf der Haut spürbar, auch seine Brust hob sich nicht.
Iwan räusperte sich, wollte sich abwenden; diese magnetische Kraft hielt die Berührung eine Sekunde fest, und Niko reagierte: seine Zunge strich rasch über das Fingerpad und berührte den Nagel. Neuronale Impulse — Kurzschluss; und Iwan, Kind von Koaxialkabeln und Produkt von Informationsüberlastung, blockierte entschieden. Isolation gebrochen, Wangen glühten — Überhitzung, freier Draht knisterte und schlug sanft elektrisiert.
Entladung; Iwan zog die Hand zurück und lächelte reflexhaft zur Verteidigung. Bei Niko huschte eine kleine Falte zwischen den Augenbrauen vorbei, ansonsten blieb er wie immer — unerschütterlich, freundlich zu allen, ohne jemandem Vorzug zu geben.
Als die Herbstferien begannen, machte sich chronischer Schlafmangel bemerkbar. Iwan begriff seine Müdigkeit nicht vollständig, also sagte sein Körper „nein“ für ihn. Ein Tag wie im Murmeltier-Rhythmus — drei Mahlzeiten am Tag, Schlaf in den Pausen. Iwan träumte von einem platonischen Atlantis mit allgegenwärtigen Porträts von Cleito, als wäre es der Große Bruder; er träumte von Sodom und Gomorrha, Übergang vom Göttlichen in den eisigen See Cocytus. Durch Frostmuster hindurch sah er, wie auf seiner Handfläche ein Farn erblühte .
Als er das Telefon in die Hand nahm, entdeckte er drei verpasste Anrufe von Lesja. Sie hatte am Sonntag angerufen. Nun war es offenbar schon Mittwoch. Wenn sie ihn nicht über die Anrufe aller gemeinsamen Bekannten (inklusive seiner Mutter, das Ass im Ärmel) erreicht hatte, war das Gespräch wohl nicht wichtig. Noch ein paar Freunde schickten wie aus der Kopie „Wie geht’s?“ — auch sie beantwortete er knapp und mechanisch.
Iwan zog überrascht die Augenbrauen hoch: Niko schrieb auch. Fragte, ob er die Schriftstellerin Anne Rice kenne. Die Finger tippten träge „Nein“ auf den Bildschirm. Die Antwort kam sofort — völlig themenfremd. Ebenfalls kurz, als würden die Worte beiden von Karten vorgelesen: „Komm raus.“ Punkt — für abgeschlossenen Gedanken, für Festigkeit der Überzeugung. Iwan verstand es als Befehl. Ohne Zweifel — nur nachgefragt: „Draußen?“ Sofort: „Ja.“
Iwan stand wie durch einen Pavlov-Reflex auf, warf die Jacke über. Dass die Knie frei waren — egal. Er ging hinunter, ohne zu wissen warum, denn Niko kannte seine Adresse ja gar nicht. Und was soll's, dass Iwan nur fünf Minuten von der Schule entfernt wohnte.
Die Tür des Hauses — strukturiertes Glas, das, die Form vernachlässigend, die Farbe extrem klar wiedergab. Aber die lange, hohe Gestalt war eindeutig kein Kontrabass. Niko drehte sich halb zu ihm, als würde er seinen besten Winkel zur Schau stellen. Für Iwans rein professionellen Blick waren alle Seiten einwandfrei. Scharfe Kieferlinie für das Profil, „goldene Maske“ für die Vorderansicht. Typisches Gesicht „dreißig vor dreißig“. Oder wie bei Rockstars, die in ihren Zwanzigern wie Supernovae explodieren.
Niko ist achtzehn, also drängte die Zeit ein wenig —
Iwan, was redest du da? Du hast keinerlei Pläne mit ihm, und Niko wird dein Leben genauso verlassen, wie er hineingekommen ist.
Er lächelte, wie er jedem lächeln würde, aber irgendetwas daran war doch intim. Iwan — die Verkörperung der Ernsthaftigkeit, Arme verschränkt:
„Warum bist du hierher gekommen?“, fragte er nicht nach dem „Wie“, denn in rosa Nasenschleim zu schwimmen „er wartete bei mir zu Hause“ war weitaus angenehmer. Keineswegs gesünder, aber wie Zucker — jeder genießt es gelegentlich.
„Um dich zu sehen“, — als sei es selbstverständlich. Die Sonne umrahmte seinen Kopf wie ein Nimbus, und die bernsteinfarbenen Augen im Kontrast — Bambi-Augen. Zu vertrauensselig. Iwans sozialer Modul verlangte, etwas zu sagen. Doch die Elektrizität erreichte die Zunge nicht; nach dem Impulserhaltungsgesetz konnte sie nicht verschwinden, also floss sie in den Körper. Er trat zu Niko, packte ihn am Kragen und plötzlich.
Küsste ihn.
Es fühlte sich wie Monopol an. Das Herz schlug im Tempo eines Walzers — selbstverständlich Wiener Walzer — im Rhythmus eines Scherzos, schlug wie ein Metronom in den Ohren. Die Hand glitt über die Kieferlinie und hinauf zu den Wangen. Und dann das Gesicht von ihm — Maske des Justinian II. , kalt wie Bronze und etwa ebenso undurchdringlich. Iwan brannte innen und außen (interessant, wann er eigentlich zum Feind geworden war), zog die Hand zurück und wich. Nicht sofort wagte er, den Blick zu heben.
Und Niko — komplett in Schwarz und Weiß. Der Nimbus sank von seinem Kopf, denn die Heiligkeit war ihm gerade genommen worden. Verkohlt, wie Luzifer, der sich gerade in Satan verwandelt hatte. Lachend:
„So sehr habe ich dir gefallen?“
Iwan schwieg. Die Ukraine (die er deutlich erinnerte) — dichte Wälder, Sümpfe, Berge, insgesamt ideale Bedingungen für Guerillakrieg. Also automatisch kein Vorteil für Niko. Das verstand er selbst, also änderte er sofort die Taktik:
„Komm zu mir.“
Einladend breitete er die Arme aus — siehst du, ich beiße nicht, und ich habe keine Waffe. Das System funktionierte wie Schweizer Uhrwerk — sagte Niko etwas, führte Iwan es sofort aus.
Er kehrte nach Hause zurück, glücklich, aber ohne zu lächeln. Niko biss seltsam auf seine Lippe — bis Blut floss, wahrscheinlich ein Kink von ihm. Na gut. Wenn Iwan jedes Mal diesen überwältigenden Oxytocin-Ausstoß hat, ist alles erlaubt.
Sie trafen sich am nächsten Tag. Und am Tag danach. Iwan piepste:
„Wer sind wir jetzt füreinander?“ — schüchtern, denn direkt zu fragen, wie ernst Niko es meinte, ist ein Roulettespiel: „dumm, was für eine Beziehung“ oder „ich will mein ganzes Leben mit dir verbinden“, mit gleicher Wahrscheinlichkeit. Obwohl, wenn die Roulettekugel russisch ist, kommt es nie zu Gunsten der Ukraine.
Niko war geradeheraus — wie ein Schuss ins Gesicht, und der Effekt war ebenso spektakulär:
„Ich würde gerne mit dir eine Beziehung haben. Offiziell.“
„Was, sollen wir gleich zum Standesamt rennen und heiraten?“, eine Schutzreaktion als zweite Haut. Schade, dass sie gegen die Kugel nichts nützt.
„Wenn du willst — machen wir das“, Niko verstand den Scherz nicht. Er packte Iwan an den Schultern und schüttelte ihn leicht, als wolle er ihn wieder aufwachen lassen — bei ihm war anscheinend noch nicht angekommen, dass das Gespräch ernst war. Iwan war ganz der Skeptische, aufmerksam und zusammengesunken. „Aber zuerst brauche ich dein mündliches Einverständnis. Würdest du gerne mit mir zusammen sein?“
Niko hörte, wie Iwans Blut durch den Körper raste, wie sein Herz in Tachykardie geriet. Er war grundsätzlich ein Schauspieler, spielte die vollkommen gute Fassade — aber nur oberflächlich, auf der Ebene des Gesichtsausdrucks. Sein Körper verriet ihn vollständig. Und genau dann zuckte er zurück, spannte sich unter dem Adrenalinstoß. Iwan blickte ihn gehetzt an — patriarchale Dogmen zerbrachen, und die Erziehung flüsterte, dass zwei Jungen nicht zusammen sein könnten. Aber jemanden wie Niko entgehen zu lassen, war zu teuer, und die Reue würde mindestens ein halbes Leben dauern. Iwan traf die Entscheidung aus Vernunft, nicht dagegen.
„Okay.“
„Ich weiß, du willst noch etwas sagen“, Niko zog die Augenbrauen zusammen.
„Mh, und du…“ seufzte er. Er schlug sich mental gegen die Wand — zum Glück waren sie draußen. „Willst du… gleich in der Schule? So, wie ein süßes Paar?“
„Warum nicht?“
„Naja… die Mädchen werden sicher neidisch“, kicherte er. „Hoffentlich legen sie keinen Fluch oder bösen Blick auf uns.“
„Ich schenke dir ein Amulett aus rotem Jaspis.“
„Dann gut.“
Niko begleitete Iwan nach Hause, und als dieser in seinem Zimmer saß und die Wand anstarrte (die Gedanken wechselten bei jedem dritten Wort die Sprache, und am Satzende ging der Logos verloren), beschloss er für sich, dass Alleinsein kontraproduktiv war. Aurelius hätte ihn, natürlich, verurteilt. Die dritte und fünfte Straßenbahn — beide strebten zum Zentrum, also zum Jakominiplatz, und die erste, die ihm begegnete, warf ihn am Parterre bei Lesja raus. Er klingelte sofort bei ihr. Sie murmelte undeutlich etwas und öffnete die Tür.
„Lesja“, begann er enthusiastisch, wie der hellste Stern am Himmel. Schade, dass man von außen nicht sagen konnte, ob sie vielleicht schon vor Millionen Jahren zu einem Schwarzen Loch geworden war. „Ich habe dir doch gesagt, dass Niko in unsere Klasse gewechselt ist.“
„Nikolas?“ wiederholte sie. Tatsächlich wirkte der verkürzte Name für ihn irgendwie unpassend. Er war zu imposant dafür. „Ja. Ich hatte dich gebeten, vorsichtig mit ihm zu sein.“
„Also nicht mit ihm reden“, entglitt ihm in Lesjas Tonfall. Die Situation: Satire und Niko: der Satiriker, Begleiter des Dionysos.
„Aha“, Lesja wirkte nicht überrascht und hörte scheinbar nur halb zu. „Willst du Tee?“
„Ja. Schwarz“, Iwan wartete, bis sie den Wasserkocher aufdrehte, um das Plätschern des Wassers nicht zu übertönen: „Lesja, du hast gesagt, ich soll vorsichtig sein, und ich habe genau das Gegenteil getan.“
Sie blieb stehen. Fragte vorsichtig, sich zurückhaltend, um keine voreiligen Schlüsse zu ziehen:
„Also?“
„Wir sind jetzt zusammen.“
Die Stille drückte auf seine Schultern, zerknitterte die Wirbelsäule. Der Magen klebte am Rücken, und Sitzen wurde äußerst unbequem. Sie starrten sich gegenseitig an, auf der Suche nach Wahrheit, Trost oder einem Schuldigen — und fanden nichts.
„Schon lange?“, flüsterte Lesja, und durch die Risse in ihrer porzellanartigen Stimme schimmerte fast ein Hauch von Entsetzen. Iwan überlegte, was daran schlimm sein sollte — selbst wenn Niko plötzlich ihr Ex gewesen wäre, obwohl er die Wahrscheinlichkeit längst auf nahezu null reduziert hatte.
„Seit heute“, er wälzte die Fragen auf der Zunge und entschloss sich, ohne Umwege zu fragen, wie es war: „Was ist los? Warum magst du ihn nicht?“
Sie zögerte, ihre Antwort wurde offensichtlich gefiltert. Von Aufrichtigkeit konnte keine Rede sein:
„Er hat mir etwas Unangenehmes angetan“, seufzte sie, „Schon vor einiger Zeit. Und ich denke, das war ein Ausdruck seiner Persönlichkeit. Iwan, ich will dir keine Vorschriften machen und reagiere auf deine Neuigkeiten nicht aus Homophobie oder irgendeinem anderen Grund, den du dir vorstellen könntest. Es ist einfach Nikolas.“
„Was genau er getan hat, wirst du mir natürlich nicht erzählen?“, Iwans Geduld drohte zu reißen. Unvollständige Geschichten konnte er nie leiden.
„Nein, werde ich nicht.“
„Oh, wunderbar!“, er hob die Stimme auf achtzig Dezibel. Beeilte sich, sich zu beruhigen — er merkte, dass er sich schon unangemessen verhielt: „Lesja, hör zu, er gefällt mir. Sehr. Und ich fühle mich unwohl in der Position weder für die einen noch für die anderen“, und sofort kam ihm ein Vorschlag über die Lippen: „Übermorgen feiern wir Halloween im Musikhaus. Kommst du mit? Dann könnten wir die drängenden Fragen klären“, die Bitte war offenbare Schwäche, doch besser ertragen, als zwischen zwei Fronten zu stehen.
„Ich kann nicht“, Lesja blieb kugelsicher und störrisch wie ein Zicklein.
„Du willst nicht“, tippte Iwan mit der Zunge.
Ein Kompromiss war nicht möglich und konnte es auch nicht sein, wie im Walujew-Zirkular, und so verabschiedeten sie sich unter Spannung. Nun ja, verabschiedeten — irgendwann stand Iwan auf und ging. Drehte den Schlüssel im Schloss und knallte die Tür, halb aus Angst, halb in der Erwartung, dass Lesja ihm folgen würde. Er ließ zwei Straßenbahnen vorbeifahren in vager Hoffnung. Lesja folgte ihm nicht, und später hörte sie auch auf zu schreiben.
An Halloween kleideten sich Niko und Iwan als Bela Lugosi und Helen Chandler aus dem weltberühmten Film . Und eindeutig war Niko Dracula. Mit hochgestelltem Hemdkragen, weißer Weste und schwarzem Umhang fühlte er sich wie eine Matrjoschka . Sieht aus wie immer — makellos. Iwan cosplayte Mina Harker, wählte statt eines Kleides eine Batistbluse und Culotte-Hosen. Das Korsett zeichnete seine Taille, aus Glen wurde Glenda . Nur für eine Nacht.
Die Musik schnitt in den Ohren — ein wenig Masochismus lag darin. Iwan genoss das Gefühl. Gedanken wurden gedämpft. Die Erziehung musste zum Schweigen gebracht werden. Sie schrie, dass man nicht Hand in Hand mit einem Jungen erscheinen dürfe — es sei gottlos, denn Levitikus 18: 22 sagt: „Du sollst nicht bei einem Mann liegen wie bei einer Frau: das ist ein Gräuel.“ Iwan hörte nicht mehr hin. Außerdem waren sie erst am zweiten Tag zusammen, zum Liegen war es noch nicht gekommen.
Der Heavy Metal verwandelte sich in Gothik, also romantisch. Das Tempo verlangsamte sich von 120 auf 80 Schläge pro Minute, Iwan klopfte mit dem Fuß den Takt. Niko kam von hinten, schloss ihn in die Arme. Er spürte, wie Iwans Körper zitterte, wie verzweifelt das Blut zirkulierte. Die Temperatur stieg um einen halben Grad. Von innen spürte es sich vermutlich dreifach intensiv an. Hinter Iwan — eine Michelangelo-Statue noch schöner als David.
Er lauschte: Wenn Niko aufgeregt war, müsste das Herz in seiner Brust hämmern. Doch unter seinen Schulterblättern war Marmor, das Tempo null.
Nikos Eckzähne schmerzten. Ein Freud’sches „Es“ in ihm drängte darauf, Iwan in die Kehle zu beißen und zu trinken, trinken, trinken — bis der Magen sich auf einen Liter ausgedehnt hätte. Vier Liter Blut hätten ohnehin noch in ihm verbleiben können. Das „Über-Ich“ verlangte, das Leben eines Menschen nicht zu stören. Niko einigte sich mit sich selbst — wenn er ein Moralist war, dann auf eine offen graue Art. Gut hatte er sich schon lange nicht empfunden.
Er beugte sich an Iwans Hals und, als würde er küssen, biss in die Halsschlagader. Ohne Eckzähne. Die Arterien standen unter hohem Druck, bei minimaler Verletzung hätte das Blut in Fontänen spritzen können. Normalerweise koaguliert es nicht schnell genug. Also tastete er mit der Zunge nach einer Alternative — der äußeren Drosselvene.
Iwan zuckte. Nicht aus Angst, nicht schreiend. Der Vampirzahn unter der Haut hatte zugleich eine betäubende und beruhigende Wirkung, und nach einer Weile kam die logische Frage:
„Niko, mein Hals ist taub. Ist das normal?“
„Das macht nichts“ — Niko hielt Iwans Kopf, damit er ihn nicht fallen ließ.
Wenn Niko sich so etwas erlaubte, wollte Iwan es auch. Physiologische Reaktionen und erotische Träume quälten ihn. Anfangs wagte er sich nicht weiter mit Küssen — aber Mitte November kam es wohl auch zum Sex. Sie waren bei Niko in der Wohnung, wie gewohnt leer, schauten „Vampire Diaries“ auf Netflix. Iwan scherzte über Netflix and chill, unpassend wie es war, und Niko lachte treffend. Küsse auf dem Sofa, sitzend und halb liegend. Iwan fuhr mit der Hand durch sein Haar, über den Hals bis zum Schlüsselbein, zog am Stehkragen. Er wollte unter die Kleidung — Niko ließ nicht.
„Willst du nicht?“, rückte Iwan unsicher zurück.
„Nicht jetzt“, Niko stand auf, der Moment war endgültig vorbei. „Ich brauche noch etwas Zeit, aber“, seine Stimme hallte aus dem Flur, „damit du es weißt: Ich vertraue dir.“
Niko war wieder vor ihm, wieder größer. Reichte Iwan die Schlüssel.
„Das ist…“, die Worte fielen schwer, demonstrativ zeigte er mit den Händen zum Zimmer.
„Ja, von meiner Wohnung. Komm jederzeit vorbei.“
Es schien ernst. Sie verbrachten mehr Zeit zusammen als getrennt. Sie waren ein Paar den gesamten Herbst und noch ein Stück vom Winter lang — bis zum 17. Dezember.
Dann — dann verschwand Niko.
Iwan war offen wütend. Auch, weil Mitschüler ihm Fragen stellten — er musste es ja wissen. Er hatte anscheinend persönlichen Zugang zu Nikos Wikipedia-Seite. Die ersten drei Tage bombardierte er den Chat mit Niko, dann, als er sah, dass die Nachrichten nicht einmal zugestellt wurden, kehrte er langsam in die Ratio zurück. Gott liebt die Dreifaltigkeit, oder? Sie hatten einander den Eltern nicht vorgestellt, und über Nikos Familie wusste Iwan für sein Verzweifeln viel zu wenig. Seine Wohnung stand leer — Iwan trug den Schlüssel nun schon einen Monat zusammen mit seinem eigenen. Und die Verwandten lebten in Bergen, zu denen Google Maps keinen Weg fand.
Iwan wollte Anzeige bei der Polizei erstatten, aber irgendetwas hielt ihn zurück — eine klare Begründung konnte er nicht formulieren.
Die orthodoxe Kirche der Ukraine hatte die Umstellung auf den Gregorianischen Kalender bereits 2023 beschlossen, daher feierten sie mit der Familie gemeinsam mit dem Rest von Österreich. Kurz vor Weihnachten war ganz Graz mit Schnee bedeckt, geschmückt mit Girlanden — dekorativ und LED. Die Märkte hatten sich entlang des Hauptplatzes und vor dem Kunsthaus schon seit Ende November ausgebreitet, dort, erinnert er sich, hatte Niko ihm irgendeinen kleinen Nippes gekauft. Die Mutter fragte, was Iwan sich zu Weihnachten wünsche. Iwan wollte nichts.
Er hatte Entzugserscheinungen — ein Abstinenzsyndrom . Niko hatte durch Modulation der Neurotransmitter auf ihn gewirkt, sodass der Körper keine Endorphine mehr selbst produzierte. Eine schwere Depression in Miniaturform.
Am Weihnachtsabend hielt Iwan es nicht aus. Zu viel auf einmal: Menschen, Stimmen, schmutzig schillernde Farben. Gesichter wurden in unnatürlichen Farben bemalt, zu Chimären verwandelt, und in einem Moment schlüpfte Iwan aus der Wohnung. In den Händen: Telefon, Kopfhörer, Fahrkarte. Ein paar Euro in Münzen. Er ging zu Fuß zum Hauptbahnhof und wartete eine ganze Stunde. Unklar, warum er genau den einundsechzigsten Zug nehmen wollte. Menschen im Wagon waren keine — alle verbrachten die Zeit mit ihren Familien.
Im Fenster — Lampen, Sitze, ein ergebener Diener, also finsterer Iwan. Draußen — kleine österreichische Städtchen, Fachwerkhäuser, ausgelegt für eine ganze Familie. Wolken hingen tief, fast an den Baumwipfeln. Iwan hörte ein Musikalbum über „erschossene Wiedergeburt“, Haus „Slovo“ und ukrainischen Futurismus. Bei einem Lied über das Solowezki-Sonderlager ließ er eine spärliche Männerträne zu.
Er stieg in Bad Schwanberg aus. Eine Stunde und fünf Minuten Zugfahrt, neununddreißig Kilometer von Graz. Ein gelbes, dreiteiliges Gebäude für jene, die noch Papiertickets kauften (Kunden 60+), Haltestelle wie ein Busbahnhof. Die Straße schnitt durch Felder. Im Sommer wuchs hier wohl Mais. Er schlängelte sich die leere Straße entlang, bis die Beine taub wurden, betrachtete die leuchtenden Fenster. Dutzende Lichtquellen — völlig unprofessionell. In jedem Haus schlief niemand, in jedem Haus waren Menschen.
Iwan kam zu menschlichen Überresten. Der Friedhof umschloss die Kirche — irgendwie erinnerte er sich an das Skelett um Nikos Finger vor einem halben Jahr. Er befand sich unter den Privilegierten: Man sagt, Nähe zu heiligen Orten erleichtert den Weg ins Paradies. Musik war von innen zu hören. Er zog die Eichenholztüren des Eingangs automatisch auf und fast fiel er — hatte den Körper nicht darauf vorbereitet, wie leicht sie nachgaben.
Ein Riss in den cremeweißen Wänden — Strumpfnaht, kommt wohl bei jedem vor, aber ein fetter Minuspunkt für das Karma. Schwere Kronleuchter hingen von der Decke und tauchten das leere Kirchenschiff in Licht. Der Altar hingegen war nicht leer. Auf dem lag ein Körper in seltsamer Pose. Iwan zuckte zusammen: Alles war unwirklich; Halluzinationen nach zwei schlaflosen Nächten. Er wurde von etwas Höherem geführt, vielleicht träumte er nur. Er biss sich auf die Wangenschleimhaut, bis Blut floss, und schloss die Augen. Es tat weh. Der Körper zuckte — Versuchte sich zu bewegen. Iwan rief vorsichtig:
„Niko?“
In einem Vierklang von Lauten fasste er all seine Fragen. Links — eine weißholzene Orgel mit acht Registerschaltern an jeder Seite, auf der ein kleiner Mensch spielte. Bewegte sich ruckartig, wie ein Frosch bei galvanischen Experimenten. Iwan erkannte Mozarts „Requiem“ und tauchte in den Symbolismus ein.
„Niko, was passiert, stirbst du?“, sein Aufschrei ging ins Belting. Er stürzte zu ihm, fiel auf die Knie, drückte sich an ihn, versuchte mit Wärme seine Lebensenergie zu übertragen. Solange er jung war, hätte sie für zwei gereicht. Von Niko roch es nach Blut. Iwan wusste, wie es riecht. In der Kindheit hatte ihn der Großvater gezwungen, Kaninchen zu fangen, sie an den Ohren hochzuheben und zu töten — ein präziser Schlag mit dem Knüppel auf den Kopf, und fertig, überhaupt nicht schmerzhaft. Er zerteilte sie und sortierte die Innereien in brauchbar und unbrauchbar. Sieben Jahre lang war er Vegetarier gewesen — doch dann begann er, beim Verzehr von Fleisch ein ambivalentes Vergnügen zu empfinden.
(Ja, vielleicht war er gar nicht so einem braven Jungen, wie er erscheinen wollte. )
Niko sah ihn unter gesenkten Wimpern an. Die Pupillen verschlangen seine Iris, und er wirkte plötzlich wahnsinnig. Zwischen den Lippen blitzten Zähne durch, merkwürdig gefärbt, rötlich schimmernd. Er hustete, lachte, hustete und lachte. Dann schloss er Iwan in die Arme.
„Du bist gekommen.“
„Keine Ahnung, warum“, antwortete Iwan ehrlich, fuhr Niko mit der Hand die Wirbelsäule entlang. Jede Berührung — ein Dopaminschub, vierhundert Volt direkt ins Gehirn. Hardcore-EKT , aber bei richtiger Anwendung fast garantierte Heilung der Depression.
„Ich habe eine Ahnung“, Niko griff Iwan an die Schultern und sah ihm in die Augen. Machte deutlich, dass der Höhepunkt nun kommen würde. — „Du bist gekommen, weil ich es wollte.“
„Was auch immer das heißen mag“, schnaufte Iwan. Er kam zu den dringenden Fragen: „Aber was machst du hier? Sag ehrlich, bist du ein Sektenmitglied? Ein Fanatiker?“ Niko schwieg. Sah aus wie ein verlorenes Kind in einem Einkaufszentrum unter tausend Leuten. Da sprach Iwan wirrer: „Ich bin mit vager Idee losgezogen, dich zu finden, und nehme dich so, wie du bist.“
„Genug“, Iwan hatte das Bedürfnis, Niko etwas Schlechtes anzutun, weil er es auf sich bezogen hatte. Der Organist hielt inne. Schloss alle Register, schaltete den Elektrolüfter aus, deckte die Tasten ab. Warf einen Blick über die Schulter — eine rosigen Wangen Puppe in klassischem Kostüm; ging, als würden seine Beine von außen an Fäden gezogen.
Sie waren allein.
Stein und Beton hielten Wärme schlecht, und selbst die verbliebene stieg zur Decke. Iwan zitterte. Niko versuchte nicht einmal, ihn zu berühren — physisch war er unfähig zu wärmen. Seine Stimme klang rau:
„Ehrlich?“, wiederholte er, sich eine Sekunde zum Entscheiden nehmend. Vielleicht war dies für ihn ein „vor“ und „nach“. — „Ich bin ein Vampir.“
„Lach mich nicht aus“, wenn man von den Phasen der Akzeptanz spricht, war Iwan in der ersten. Leugnung, weil Nikos Verhalten mit diesem Geständnis endlich Sinn ergab. Gleichzeitig widersprach es Iwans Prinzipien und machte ihn ohnmächtig unorthodox.
„Es ist wahr. Und du wirst daran glauben, denn mein Wille ist stärker als deiner.“
An den Wänden — die Leidensgeschichte Christi, der kanonische Kreuzweg. Sieben Szenen pro Seite, also vierzehn insgesamt, ein Hinweis darauf, dass die Kirche katholisch war. In der orthodoxen Tradition sind es zwölf. Jesus blickte von oben auf Iwan herab und trauerte über seine Sünden (zu verurteilen war ihm nicht erlaubt). Aber Gott konnte man nicht darstellen; „das Wort wurde Fleisch“ — es geht um Sein Eintreten in die materielle Welt, und zum Idol wurde er so einen Schritt näher. Iwan hypnotisierte Jesus, flehte zu sich selbst. Keine Schuld spürte er, und Ehrfurcht vor dem Göttlichen war vergangen. Die Bilder zählten zur Fine-Art-Kategorie, und Jesus war eine Renaissance-Allegorie für opfernde Liebe. Im Kern — ein metasprachliches Idol.
„Iwan“, sprach Niko erneut. Etwas hatte in ihm umgeschaltet, und seine Stimme klang jetzt mutiger: „Ich wurde in der Epoche der Aufklärung geboren. Ich habe Konzerte aller Wiener Klassiker live gehört, ich habe Österreich noch vor den Reformen Maria Theresias gesehen. Nach all den Jahren bleibt mir nur Eintönigkeit, und ich dachte, sie sei für immer.“
Niko hatte sich nicht umsonst vor ihm offenbart — im leeren Kasten sollte ein Kaninchen namens „aber“ erscheinen.
„Aber du.“
„Sag bloß nicht, dass ich.“
„Einzigartig“ erklang gleichzeitig, sich verzweigend in „bin“ und „bist“. Ihre Stimmen überlagerten sich, erzeugten eine Resonanz aus Obertönen. Ungesagt blieb — und fremd.
Niko sprang vom Altar. Er sah wahnsinnig aus: ein langer weißer Chiton auf nackter Haut, rote Lippen. Er lief hin und her, ohne die Ecken zu erreichen, um sich nicht in die Lage einer Ratte zu bringen:
„Ich kann nicht aufhören, an dich zu denken“, sagte er mit dem Rücken zu Iwan, denn Augenkontakt hätte ihm Mut genommen. „Vampirismus ist eine Sache der Extreme, das Prinzip „alles oder nichts“. Wie eine Immunreaktion: Zellen reagieren entweder vollständig auf ein Antigen oder gar nicht“, — er stockte. — „Mein viertes Studium war übrigens Medizin“, — erklärte er unpassend. — „1863 wurde an der Karl-Franzens-Universität eine medizinische Fakultät gegründet… Aber das ist nicht, was ich sagen will, nein!“ Niko drehte sich zu ihm um und trat näher. Verdeckte mit seinem Körper das Al secco -Bild Jesu an der vorderen Wand. — „Ich möchte versuchen, dich zu verwandeln.“
„Wozu?“ — fragte Iwan stumpf. Die letzten Minuten hatte er überhaupt nicht mehr verstanden, was geschah.
„Betrachte es als Ersatz für eine Unterschrift im Standesamt. Vampirismus hat keine offensichtlichen Nachteile, wie sie die Popkultur einredet. Die Sonne ist mir nicht feindlich, und Weihwasser ist ein eher ideologisches Konzept. Das Einzige: der Übergang von Heterotrophie zu Hämatophagie. Und Einsamkeit über Jahrhunderte hinweg“, — er schwieg, um schließlich ein Argument zu finden: — „Du hast mir gesagt, du willst alles ausprobieren. Zehn Sprachen lernen, jedes Land der Welt bereisen. Ich kann dir das ermöglichen.“
„Wie läuft die Verwandlung ab?“ Den Spatz, der schon bereit war zuzustimmen, schluckte er hinunter .
„Durch Blutübertragung. Die Blutsverwandtenehe nach Bram Stoker, doch das Symbol stammt aus viel älteren Zeiten. Dein Blut ist bereits Teil von mir geworden“, Iwan deutete das als einen Akt kultureller Aneignung, „zur Verwandlung musst du von meinem trinken. Oder es injizieren.“
„Na gut“, Iwan zuckte mit den Schultern. Wenn Gefühle zu stark wurden, hatten sie die Tendenz, sich einfach abzuschalten. „Du hast doch kein HIV? Oder Aids?“
„So etwas gibt es bei Vampiren nicht“, lachte Niko.
„Warum nicht?“
Eine Weile dachte er nach, dann winkte er ab, da ihm sein Diplom aus dem 19. Jahrhundert inzwischen etwas veraltet vorkam:
„So hat es sich historisch ergeben.“
Ein Luftzug heulte, als wolle er die passende Atmosphäre schaffen. Niko trat näher — wie ein Geist, der sich durch die unterirdischen Gänge der Pariser Opéra Garnier bis nach Österreich geschlichen hatte. Er streckte den Arm vor, zeichnete mit zwei Fingern die Linie der Radialvene nach. Befahl:
„Beiß.“
Iwan schluckte. Das war verrückt. Die Verkörperung seines phantasmagorischen Traums. Er wunderte sich, warum er inmitten der Reaktionen „kämpfen, fliehen, erstarren“ immer wieder Anpassung wählte. Und um wenigstens nach einem Messer zu fragen — surreal, woher sollte hier eines kommen. Seine Zähne waren zwar nicht besonders spitz, aber insgesamt stark.
Er stellte sich vor, dass das, was er im Mund hatte, keine menschliche Haut war — Niko war im eigentlichen Sinne kein Mensch. Beim Durchstechen spürte er flüssige Wärme, die sich mit Eiweiß und Antikörpern über seine Zunge ergoss.
Iwan sog das Blut in sich auf — und spürte augenblicklich die Veränderung. LSD hatte er nie probiert, aber nach allem, was er darüber gehört hatte — das hier kam dem verdammt nahe. Gewohnte Reize wurden anders wahrgenommen. Die Luft legte sich wie Stoff über ihn, kühl und seidig. Die Fugen der Wände atmeten, wölbten sich wie Zwerchfelle. Jesus sprang aus dem Gemälde und begann, alte jüdische Tänze zu tanzen. Niko warf den Kopf zurück, stieß ein heiseres Lautfragment hervor — der Ton spaltete sich, brach, verwandelte sich in ein Echo und gipfelte in einem Stöhnen.
Als Iwan zu sich kam, befand er sich bereits in Graz. Nikos Wohnung erkannte er nicht sofort — sie setzte sich wie ein Puzzle aus einzelnen kubischen Teilen zusammen, was bedeutete, dass sie keine Seele besaß. Seine Augen verlangten nach einem beweglichen Objekt, und er blieb an der Wanduhr hängen. Genau eine Minute später trat Niko ein.
„Wie fühlst du dich?“, fragte er vom Eingang her. Da Iwan keine Worte fand, füllte Niko die Stille selbst: „An deiner Herzfrequenz und Körpertemperatur habe ich gemerkt, dass du wach bist.“
„Geht so“, die Hälfte der Buchstaben ging ihm im Reden verloren. Iwan räusperte sich, doch es half nichts. „Bin ich jetzt ein Vampir?“
Niko wandte den Blick ab. Ein schlechtes Omen. Er setzte sich auf die Bettkante (das schwarze Laken — Iwans Novembergeschenk; er konnte nie bis Neujahr warten) in die Pose des „Denkers“ von Rodin:
„Die Verwandlung ist… sagen wir, ein besonderer Prozess. Es ist wie bei der Empfängnis — manchmal befruchtet die Zelle, manchmal nicht.“
„Hat’s nicht geklappt?“, brachte Iwan es auf den Punkt.
„Nein.“
„Na gut“, sein Gehirn arbeitete träge, und Aufregung war das Letzte, was er jetzt empfand. Enttäuschung hätte ohnehin nichts geändert. „Niko — ist das dein richtiger Name?“
„Ja. Nikolas Wenzel Andreas von Kaunitz-Rietberg“, antwortete er ohne das geringste Zögern, während Iwans neuronale Verbindungen sich zu einem Knoten verschlangen. Fremde Namen blieben ihm generell schwer im Gedächtnis. „Mein Onkel war der Initiator der Diplomatischen Revolution im Jahr 1755. Und 1764 wurde er zum Fürsten erhoben — Maria Theresia zeichnete ihn für den erfolgreichen Abschluss des Siebenjährigen Krieges aus. Aber das ist nur Vergangenheit.“
„Niko“, sagte Iwan; wiederholte, als koste er den Nachklang seines Namens aus: „Niko, ich will mehr wissen. Ich weiß so wenig über dich.“
„Aus meiner Biografie ließe sich eine Trilogie machen“, lächelte Niko schief.
„Erzähl mir.“
„Was?“
„Alles.“
Niko ergab sich kampflos — um psychisch zu heilen, muss man das Trauma noch einmal durchleben. Gut, dabei nicht allein zu sein.
„Ich wurde im Jahr 1754 geboren“, Iwan rechnete: Niko war also zweihundertsiebzig. Eine schwindelerregende Zahl im Kontext menschlichen Lebens, und er fragte sich unwillkürlich, was man in so viel Zeit alles erreichen könnte. Er selbst wäre Politiker geworden, Spion, Model oder Revolutionär — von allem ein wenig, denn im Kern war er ein Polymath. „Mein Großvater hatte neunzehn Söhne, mein Vater zwölf. Als ich acht war, erhielt unsere Familie den Reichsfürstentitel. Wir mieteten einen Palast im Wiener Bezirk Josefstadt — den Daun-Kinsky-Kaunitz-Palais. Der ältere Zweig der Familie — also mein Onkel mit seiner Gemahlin und den Kindern — wohnte im Palais Kaunitz. Welch ein prachtvoller Ort das war! Architektonisch ein Gartenpalais mit Parks, Pavillons und Stallungen. Fast jeder Saal war mit Fresken und Stuck verziert, doch mein liebster, das weiß ich noch genau, war der achteckige Saal. Dorthin kamen wir zu Familientreffen. Ich war das jüngste Kind — und darum orientierte ich mich am Klerus. Aus kirchlichen Ländereien und Titeln konnte man ein ansehnliches Einkommen beziehen; die einzige Voraussetzung, um Kanoniker zu werden, war ein tadelloser Ruf. Und den hatte ich.“
„Wie alt warst du, als du verwandelt wurdest? Du siehst so jung aus.“
„Neunzehn“, Niko presste die Lippen zusammen, wurde nachdenklich. „Ich hatte mich mit Schwindsucht infiziert, als man sie noch nicht Tuberkulose nannte. Heute wissen wir, dass sie durch Tröpfcheninfektion übertragen wird, damals aber sprach man von einer Schwäche des Organismus. Man hielt mich für eine empfindsame Natur — eine Art romantische Krankheit, die sich später in der Kunst des neunzehnten Jahrhunderts widerspiegelte. Aber ich will nicht vorgreifen.“
„Also wollte derjenige, der dich verwandelt hat, dich retten?“, Iwan zeigte in den Himmel und traf zufällig den Polarstern.
„Ja. Berühmte Ärzte kamen zu mir, doch außer frischer Luft und Milch konnten sie nichts anbieten. Verwandelt wurde ich von meinem Liebhaber — wie hieß er nur? Ich erinnere mich nicht. Ich weiß nur, dass er Schauspieler war. Der Bühnenraum eines Theaters war schon immer ein Zufluchtsort der Randständigen, dort galten die gesellschaftlichen Regeln weniger streng. Zum ersten Mal sah ich ihn bei einer Premiere im Burgtheater. Seine Darstellung war — selbstverständlich — brillant. Ich schickte meinen Diener hinter die Bühne mit einem Geschenk und einem Billet — einer hastig geschriebenen Einladung — und wurde kurz darauf sein Gönner. Ich mietete eine Wohnung unter Pseudonym, eigens für unsere Treffen.“
„Also ist dein Type wohl Künstler“, brummte Iwan. „Na schön, erzähl weiter.“
„Vielleicht“, seine Reaktion brachte Niko zum Schunzeln, aber den Laden mit der Beschreibung ihrer leidenschaftlichen Liebe hat er trotzdem dichtgemacht. „Als man mir schließlich die Schwindsucht bestätigte, wollte ich unsere Begegnungen beenden. Da gestand er es mir. Er selbst war ein junger Vampir, frisch verwandelt, doch kannte er Ältere. Wien war ja schon damals ein Hort alter Geschichten — und in jener Zeit das kulturelle Zentrum Europas. Er sagte mir, der Vampirismus schütze vor allen Krankheiten, fast wie eine Art Übermensch. Aber ich glaubte an Gott — und an die Unverzeihlichkeit einer solchen Sünde. Ich quälte mich noch ein Jahr mit dem, was man heute fibrokavernöse Tuberkulose nennen würde. In meinen Lungen sind die Narben bis heute — nur stören sie mich nicht mehr. Damals aber war ich abgemagert, atmete pfeifend, spuckte Blut.“
Iwan verzog das Gesicht und berührte Niko rasch, ohne wohl zu begreifen, welch Zeitspanne zwischen ihnen lag — zweihunderteinundfünfzig Jahre. Und Niko erzählte weiter von seiner aristokratischen Jugend, bis der Abend kam, dabei alle Fragen nach seinem späteren vampirischen Leben abwehrend. Er versprach, seine Geschichte in Abschnitte zu teilen — Iwan nannte sie Rationen — und jedes Stück erst nach dem nächsten Versuch einer Metamorphose freizugeben.
Niko, im Sternzeichen Wassermann geboren, hatte seinen zweihunderteinundneunzigsten Geburtstag, als er plötzlich beschloss, nach Wien zu fahren. Iwan fuhr mit. Die Entscheidung, die Schule auf unbestimmte Zeit zu schwänzen, fiel ihm erstaunlich leicht, obwohl ein nagendes Gefühl in der Magengegend ihn an die bereits vermerkten Fehlstunden erinnerte. Ob es Vorahnung war oder bloße Paranoia — noch ein wenig, und die Ortweinschule würde ihm wohl einen hübschen Brief der Schulverwaltung schicken. Doch das, beschloss Iwan, würde er später regeln.
Vorerst hatte er ein dringlicheres Problem: Während er noch überlegte, welches Geschenk für einen erwachsenen, in jeder Hinsicht vollendeten Vampir angemessen wäre (was schenkt man so jemandem überhaupt? ), hatte Niko längst alles für ihn erledigt. Und so wurde das Ganze ein Geschenk in umgekehrter Richtung — denn Iwan musste keinen einzigen Cent dafür bezahlen.
Vom Hauptbahnhof fuhren sie zum Pansion Lehrhaus mit dem Taxi. Es hatte zwei Sterne, doch Niko erzählte, dass er dort in den letzten fünfzehn Jahren immer abgestiegen war. Er begann zu dozieren — das Gebäude sei 1906 eröffnet worden, als vorübergehende Unterkunft für junge Lehrer. In Wien war Abend, und bei Iwan setzte der nächtliche Hunger ein.
Hundertfünfzig Meter vom Pansion entfernt fand sich ein mexikanisches Restaurant. Schon der Name verriet es — los Mexikos. Niko nannte es eine „Bude“, aber Iwan war das egal — es roch gut. Zwischen den Wänden hingen dicke, gedrehte Seile mit Fähnchen daran. Die Farben des Regenbogens in der falschen Reihenfolge. Aus dem Gespräch mit dem Kellner erfuhr Iwan, dass sie Papel Picado heißen (Niko murmelte, er hätte ihm das auch so sagen können). Der Kellner sprach über mexikanische Sprachen vor Christoph Kolumbus, und Iwan begann sofort, sie zu lernen. An der Wand breitete sich eine Karte Mexikos aus — der Kellner erklärte mit den Fingern, dass die Sprache von Region zu Region verschieden sei. Dass sie mit Spanisch wenig gemein hatte, war ohnehin klar. Nach dem Essen kam der Alkohol — Corona Extra, Pacifico, Modelo; die Küche war offen, eingebaut, und der Saal glühte wie die Hölle selbst. Oder Iwan war einfach betrunken. Er begann, Niko anzumachen, sich an ihn zu hängen, doch der wies ihn scharf zurück.
Niko — das Böse, und es schlief nicht; Iwan war früh wach. Am Morgen — zwanzig Minuten zu Fuß, und sie erreichten das Zentrum. Iwan diagnostizierte: Klassizismus. Die Architektur war monumental, stark erinnernd an Lviv — kein Wunder, dass man es in der österreichischen Tradition "Lemberg" nannte.
Dann die Kärntner Straße — Einkaufsparadies, soziophobischer Albtraum. Die Kette klassizistischer Fassaden wird von einer gotischen Kirche unterbrochen, dreizehn Schritte breit, zwei Varianten der Malteserflagge an den Seiten. Sie kamen gegen halb neun vorbei, während der Messe — Erscheinung des Herrn. Weiße Wände, hohe Gewölbe, zwei männergroße, kosakenähnliche Figuren stützten mit dem Kopf den Marmor, bewachten den Text. Anstelle von Leerzeichen Punkte, geschrieben wohl auf Latein. Niko übersetzte: Es gehe um Jean La Valette, Großmeister des Heiligen Johannes von Jerusalem. Er habe Europa gerettet, im Kampf gegen die Türken. Iwan mochte das Konzept einer durch Krieg erlösten Frieden nicht.
Auf dem Altar — ein Bild der Gottesmutter, vermutlich im Format 4: 3. Zerrissen, wie in einem durchgedrehten TikTok-Filter. Ein meisterhaftes Altarbild — das gaben beide zu. Der Priester las die Messe kaum zwanzig Minuten, und im bekannten Moment begannen sie, sich zu bekreuzigen. Iwan — nach orthodoxer Tradition zuerst die rechte Schulter , Niko — die linke mit offenem Fingerzeichen. Iwan betrachtete die Wappen an den Wänden, doch Niko kommentierte sie nicht.
Iwan schlug vor, Nicks Haus zu besuchen, eines der Palais Kaunitz, von denen er erzählt hatte, doch der winkte ab: „Ich halte das nicht aus“ — im Sinne von: sein eigenes Haus als Museum zu sehen. Im Besitz des Staates, wie in der sowjetischen Tradition, die ihre Unhaltbarkeit vor fünfunddreißig Jahren bewiesen hatte. Und eigentlich schon davor.
Sie schlenderten, tranken Kaffee, hörten ukrainische Hits — Lieder aus „Ty (Romantyka)“ . Einigten sich schließlich darauf, die Bibliothek zu besuchen.
Drinnen — Eichentüren, drei Menschen hoch, über ihnen (und Iwan hatte von Niko die Angewohnheit übernommen, nach oben zu sehen) ein Schwarm von Putten, kleinen Engeln. Bücher, offensichtlich älter als sie beide zusammen, und die Sektionen nummeriert: I, II, IV — unklar, wo III geblieben war. Iwan betrachtete die Rücken: Enzyklopädien, etwas über Oper, Pharmazie. Niko meinte, er besitze mehrere solcher Bände und wolle ihm einen schenken.
Von Wien nach Bratislava könnte man mit dem Bus für acht Euro fahren, aber Niko zahlt lieber elf, um den Zug zu nehmen. Und dann ist Bratislava — ein Himmel voller Grau, lateinisches Alphabet, aber eine ganz andere Sprache. Sechs Hundertstel Grad südlicher als Wien und etwas tiefer im Kontinent gelegen, ist die Temperatur im Winter, verglichen mit Wien, niedriger.
„Als ich zum ersten Mal in diese Stadt kam, hieß sie Preßburg“, begann Niko seine Erzählung erneut, während sie durch das Gewühl des Bahnhofs gingen. Eine endlose Geschichte, schließlich ist einem Vampir versprochen, tausende und abertausende Jahre zu leben. „Es war die Hauptstadt des Königreichs Ungarn. Slowaken waren hier in der Minderheit.“
Sie schlenderten zunächst zum Gebäude des slowakischen Radios, dann weiter zum Fluss:
„Über der Donau stand damals die Preßburger Burg, in der die ungarischen Könige gekrönt wurden. Sie wurde beim Brand von 1811 zerstört.“
Als Iwan Hunger bekam, suchte er das erste Restaurant aus, auf dem „nationale slowakische Küche“ stand. Schließlich war er auch ein Kosmopolit. Weiße Wände, rote Gewölbe, Gemälde mit Ansichten von Bratislava — derselben Stadt, nur siebzig Jahre früher. Eher hingemalt als gemalt, wenn man ehrlich ist. Gegenüber zog sich ein Fresko mit karikaturhaften Menschen, die sich ein gebratenes Ferkel teilten. In einem Rahmen darüber stand „S+I=P“. Was immer das heißen sollte. Die Innenarchitekten hatten sich auch sonst vergriffen, denn mitten im „altmodischen“ Saal wuchs plötzlich eine Kirschblüte, deren Äste sich wie Spinnweben über die Decke zogen. Auch über das Design der Speisekarte mussten Niko und Iwan lachen. Im Radio liefen alte amerikanische Hits.
Iwan bestellte sich Zwiebelsuppe („Schau, die servieren sie im Brot statt auf einem Teller — so was hab ich mal in den Karpaten gegessen“), und Niko verstand den Hinweis: Für den Abend waren keine großen Pläne vorgesehen. Aus Anstand trank er selbst nur Tee und beobachtete einen Straßenmusiker durch das Fenster.
Iwan war klar: Niko wartete ab. Er führte ihn spazieren wie ein Hündchen, nur um im richtigen Moment daran zu erinnern, wer die Leine hielt. Und er nutzte das schamlos aus. Als sie einen Secondhand-Laden mit dem Schild „Alles für drei Euro“ entdeckten, benahm sich Iwan wie verrückt und blieb dort anderthalb Stunden hängen. Niko blieb steinern — im Sinne von unbewegt.
Es dämmerte bereits, als sie den Weg hinauf zur Pressburger Burg einschlugen, während Niko erzählte, wie sich die Stadt verändert hatte, als in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts Gaslaternen eingeführt wurden. Wirklich wie ein Podcast. Der großmährische Fürst (wohl Swatopluk I. ) ragte über ihnen auf, doch Nikos Status stellte das in keiner Weise infrage. Auf der Panoramaterrasse lag die Altstadt wie auf der Hand, aber Niko blickte in die Ferne — und zeigte Iwan, wo das österreichische Land beginnt. Die Schließung des Museums hatte den Besucherstrom etwa halbiert.
In einem Moment bemerkte Iwan aus dem Augenwinkel: Alle, einer nach dem anderen, drehten sich um und gingen. Im Umkreis von zehn Metern war niemand mehr.
„Iwan“, sagte Niko, mit veränderter Stimme. Iwan spürte, wie sich seine Kehle zusammenzog.
„Was?“
„Iwan.“
„Niko.“
„Ich möchte es noch einmal versuchen.“
„Sex haben?“
„Nein. Dich verwandeln.“
Iwan runzelte die Stirn: Sein Attraktivitätslevel war soeben um zehn Punkte gesunken. Im Prinzip hatte er nichts dagegen — schließlich sabberte er immer noch über die Vorzüge des Vampirismus (laut Niko bestand er aus lauter Vorteilen, wenn man nur das Mitgefühl für Menschen ausschaltete) —, aber er hatte keine Ahnung, wie Niko ihn, bewusstlos, zurück nach Graz bringen wollte. Also fragte er noch einmal nach:
„Jetzt?“
„Ja.“
Niko war energetisch stärker, und Iwan hatte längst die Diagnose: Nikos Wünsche auszuführen — unbedingt und ohne überflüssiges Gefasel. Er flüsterte ein „Gut“ — rein für das gegenseitige Einverständnis — und strich sich die Haare nach hinten. Da, bitteschön — der Hals, wenn du willst, beiß. Nikos Zähne legten sich genau auf die noch nicht ganz verheilten Wunden. Eigentlich hatte Niko schon länger nicht mehr von ihm getrunken — er wollte Iwan nicht objektivieren, ihn nicht zu einem Produkt machen. Iwan schämte sich zuzugeben, dass ihm die Bisse gefielen. Das Betäubungsmittel in den Fangzähnen — eindeutig ein neurochemischer Stoff — ließ ihn nach jedem Mal mehr begehren. Nikos Atem kitzelte ihm unter dem Ohr. Eine Vibration lief ihm unter die Haut.
„Du schmeckst gut.“
„Wär mir lieber, du würdest sagen, ich sehe gut aus“, murmelte Iwan. Vom Blutverlust wurde ihm schwindlig, die Farben verschwammen. Die Welt verwandelte sich in einen expressionistischen Traum. Als Niko sich zurückzog, hielt Iwan sich die Ohren zu — wie das Skelett auf Munchs berühmtem Gemälde. Ihm wurde übel, und er brachte hervor:
„Hör zu, Niko, ich bin nicht bereit, dich zu beißen.“
„Wenn du nicht willst, musst du nicht.“
Und noch bevor Iwan erleichtert aufatmen konnte, führte Niko sein Handgelenk an den Mund, durchstach es selbst, beugte sich zu ihm — und ließ das Blut direkt in seinen Mund fließen. Iwan hustete, schluckte. Sein Hals brannte, sein Körper begann leicht zu zittern — er wusste, was nun folgen würde.
Nikowollte etwas sagen, doch Iwan unterbrach ihn:
„Lass mich einfach eine Minute sitzen.“
Seine Sinne schärften sich. Iwans Beine (so, wie er sie sich vorstellte) wuchsen, verformten sich zu etwas Wurzelartigem, drangen unter den Asphalt und verbanden sich mit der Ökosphäre der Erde. Er war nicht völlig bei Bewusstsein, aber noch bei Verstand. Er ging Arm in Arm mit Niko hinunter. Und er war so beschwingt, dass er ukrainische Lieder sang — alla zoppa, ganz sicher eine eigene Interpretation. Er traf Töne, die ihm sonst ohne Stimmbildung nie gelungen wären, und stupste Niko zwischendurch mit den Lippen an Wange, Hals, Ohr.
„Also“, fuhr Niko fort, als der Zug anrollte, „1773 — das Jahr meiner Metamorphose. Die Reformen von Maria Theresia und Joseph II. hatten begonnen. Ich blieb Kanoniker und genoss die Privilegien des Namens Kaunitz. Aber Vampirismus bedeutet auch ewige Jugend. Ein angenehmer Bonus — solange sich die Menschen um dich herum regelmäßig verändern und nichts merken. Wir hatten damals eine Art Gemeinschaft, einen gesellschaftlichen Kreis. Sie alterten. Sie begannen zu ahnen.“
„Wie lange hat das gedauert?“
„Etwa sieben Jahre“, dachte Niko nach. „Ja, ungefähr so. Weitere zehn Jahre habe ich mir mit Schminke und schauspielerischen Tricks erkauft.“
Er hatte schon die nächste Erinnerung auf der Zunge, doch sie kam nicht mehr heraus — Iwan fiel ihm scharf ins Wort:
„Warst du damals immer noch mit diesem Schauspieler zusammen?“
„Nein“, lächelte Niko und fuhr Iwan mit der Hand durch die Haare. Sie schimmerten golden im Licht, selbst in diesem undankbaren — künstlichen — Glanz.
„Zwei Jahre später hatte er sich an einem einflussreichen Mann genährt — oder, wenn man so will, ihn angegriffen. Der Mann vergaß das leider nicht. Die einzige Möglichkeit war, die Stadt zu verlassen, und ich weigerte mich, mit ihm zu fliehen.“
„Aber am Ende musstest du es selbst tun“, als Iwan sich beruhigt hatte, führte er ihn zu der Erzählung.
„Ja. Es war das Jahr des Todes von Joseph II — 1790. Ich wollte meinen Status und mein Einkommen bewahren und ließ mich daher nach Pressburg versetzen. Nur eine Tagesreise auf der Donau von Wien entfernt — also blieb mir alles, was dort geschah, weiterhin zugänglich. Ich gab mich als meinen Neffen aus und setzte meine Arbeit als Kanoniker fort, diesmal im Martinsdom. Später wurde ich Leiter des Domkapitels — Propst.“
Er hielt kurz inne.
„Aus der Weltgeschichte weißt du, dass Frankreich nach der Großen Französischen Revolution zur Republik wurde.“
„Ja“, nickte Iwan, „von 1789 bis 1799.“
„Am 18. Brumaire verübte Napoleon einen Staatsstreich und wurde Erster Konsul. Fünf Jahre später, 1804, krönte er sich zum Kaiser Frankreichs. Er stellte in Boulogne die Armée des Côtes de l’Océan auf, um über den Ärmelkanal nach England überzusetzen. Doch die britische Flotte besiegte ihn in der Schlacht von Trafalgar. Napoleon änderte daraufhin seine Strategie und griff Österreich an. In der Schlacht bei Austerlitz — das war im Dezember 1805 — siegte er. Österreich musste den Frieden von Pressburg unterzeichnen. Das Heilige Römische Reich hörte auf zu existieren. Sein Kaiser, Franz II. , wurde als Franz I. Kaiser von Österreich. Ich verstand: Fünfzehn Jahre waren vergangen — und meine unveränderte Erscheinung ließ sich nicht länger als ‚Gottes Segen‘ erklären. Ein Bischof wäre ich ohnehin nie geworden. Napoleon schuf gerade eine neue Aristokratie, eine ohne Rücksicht auf Herkunft, und ich dachte, dass man sich, um zu überleben, besser den Starken anschließt. Ich kannte jemanden — Charles-Maurice de Talleyrand, den französischen Außenminister. Ich lieferte ihm kleinere Informationen: die Stimmung des ungarischen Adels, Intrigen am Wiener Hof, den Zustand der österreichischen Versorgung.“
„Ein Patriot warst du also nicht“ , bemerkte Iwan. Er konnte sich Verrat an der Ukraine schlicht nicht vorstellen. Dieser Punkt war ihm in der Erziehung zur zweiten Natur geworden — und später bewusst noch einmal gewählt, also strukturell unverrückbar.
„Ich hatte Angst, Iwan“, Nikos Stimme zitterte, und Iwans Mitgefühl löschte den kurzen Ausbruch von Verachtung. „Ich lebte unter einem falschen Namen, gab mich als jemand anderes aus. Psychologisch befand ich mich in einer tiefen existenziellen Krise — und nachdem ich in dreißig Jahren keinem anderen Vampir begegnet war, wusste ich einfach nicht, was ich tun sollte. Als Gegenleistung für meine Dienste verlangte ich von Charles-Maurice politisches Asyl, eine neue Identität und Immunität. Der Propst Kaunitz-Rietberg starb — und ich, namenlos, wurde in einem versiegelten Sarg als diplomatische Post der französischen Botschaft außer Landes gebracht. Ich hatte eine gute Ausbildung, sprach fließend Französisch. Aber ich fürchtete, dass mich früher oder später mein Akzent verraten würde, sollte ich mich als Franzose ausgeben. Also nannte ich mich einen kleinen deutschen Adligen — das preußische Idiom konnte ich recht überzeugend nachahmen — und wurde so etwas wie ein politischer Emigrant.“
Eine ältere Frau auf dem gegenüberliegenden Sitz warf Niko einen seltsamen Blick zu. Er schenkte ihr ein bezauberndes Lächeln, und wie auf Knopfdruck vertiefte sie sich wieder in ihr Buch. Iwan spähte auf den Einband — Das Werden Österreichs von Erich Zöllner.
„Ich war im Außenministerium tätig, als Experte für deutsche und österreichische Angelegenheiten“, fuhr Niko fort. Iwan verstand, was passiert war: Mit einem Willensakt hatte Niko mögliche Zuhörer unterdrückt — sie würden sich ohnehin an nichts aus diesem Gespräch erinnern.
„Ich nahm an den Vorbereitungen des Friedens von Tilsit im Jahr 1807 teil, entwickelte diplomatische Strategien für den Rheinbund, arbeitete an der Einschätzung der österreichischen Militärkapazitäten während des Kriegs der Fünften Koalition und war mit der Aufklärung vor dem Einmarsch in Russland beschäftigt. Nach Napoleons Niederlage wurde die Dynastie der Bourbonen wiederhergestellt. Ich stellte mich als Opfer des Usurpators dar und schwor dem König die Treue.“
„Sie haben nicht versucht, dich zu töten?“
„Nein“, wunderte sich Niko. „Ludwig XVIII. war kein Dummkopf. Er brauchte erfahrene Beamte, und ich war obendrein ein gefragter Spezialist. Des politischen Lebens müde, inszenierte ich sieben Jahre später meinen Tod, ‚wurde wiedergeboren‘ als französischer Aristokrat und widmete mich der Bildung bis zum Beginn des Frühling der Völker im Jahr 1848.“
Iwan brachte auch beim zweiten Versuch kein Wort heraus.
Mit dem Beginn des März erwachte auch die Natur. Krokusse und Schneeglöckchen blühten, danach folgten die Tulpen. Niko kam persönlich vorbei, um Iwans Mutter zu gratulieren — brachte Blumen und fünfhundert Euro in bar mit und hielt eine Rede, die alles andere als feministisch war. Wie eine österreichische Frau um die Fünfzig darauf reagiert hätte, war fraglich, doch Iwans Mutter hatte noch die Sowjetunion erlebt und nahm solche Probleme schlicht nicht wahr. Sie trat leidenschaftlich für die Unabhängigkeit der Ukraine ein, aber Emanzipation war ihr im Grunde egal.
Als es wärmer wurde, gingen Niko und Iwan öfter zum Malen im Freien. Gleich jenseits des Flusses, gegenüber der Ortweinschule, stand sehr passend eine Kirche — eine Miniatur-Golgatha. Das Gebäude wechselte unten vom Weiß in ein seltsames Gelb, trug ein ziegelrotes Dach und sah aus wie das Gelobte Land. Von den Balkonen der Kirche blickten modellierte Menschenfiguren herab — alle dem Christus zugewandt. Normalerweise war der Zugang versperrt, aber der Sonntag war der Tag des Herrn, also strömten die Leute hinein. Iwan hielt sich immer noch für einen homo religiosus und folgte ihnen.
An der Wand war wieder Jesus dargestellt — eine vollständige Gipsfigur, diesmal auf dem Ölberg, im Garten Gethsemane. Er war auf die Knie gefallen und betete. Über ihm schwebte ein Engel mit einem Kelch — jenem, den Gott, wie allgemein bekannt, nicht an Christus vorübergehen ließ.
Die Türen schlossen sich, die Orgel erklang. Zuerst dachte Iwan, es sei eine Aufnahme, denn das Instrument war nicht zu sehen. Niko wies mit einem Nicken nach oben — dort war eine Empore. Der Priester war jung (Iwan hatte so einen noch nie gesehen, wirklich eine aussterbende Art) und sprach seine Gebete sichtlich von Herzen. Wenn andere Leute hinausgingen, um Bibelstellen vorzulesen, saß er abseits, mit feuchten Augen. Iwan war beeindruckt von seiner Aufrichtigkeit. Die Worte Gottes selbst ließen ihn hingegen kalt — er erklärte sich das damit, dass die fremde Sprache die Bedeutung abschwäche und der Text seine Tiefe verliere.
Nach dem Gottesdienst begannen die Menschen, sich zu zerstreuen, und er und Niko gingen nach oben. Sie kamen an einem Jesus vorbei, diesmal avantgardistisch — ganz in Orange, nur von einer Seite plastisch.
Ganz oben befand sich eine Plattform mit Blick auf Graz, ein Kreuz mit den Umstehenden — eine leidenschaftliche Inszenierung. Wie sehr Iwan sich auch bemühte, für ihn blieb es ein Kunstobjekt. Es berührte ihn höchstens ästhetisch, und Christus tat ihm kein bisschen leid. Johannes der Täufer war längst zum Heidentum herabgesunken. Kein Wunder: Ihm gegenüber saß ein neuer Gott. Statt Wein bot er ihm sein eigenes Blut an — und setzte dann seine Erzählung fort.
„Als der Erste Weltkrieg begann“, die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hatte Niko übersprungen; nun ja, was war da schon? Die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Einigung Italiens und Deutschlands, die zweite industrielle Revolution — nicht unbedingt Nikos Steckenpferd, „ich kam zum ersten Mal in die Ukraine. Genauer gesagt, in die ukrainischen Gebiete — einen Staat gab es damals ja noch nicht.“
„Ja, die westukrainischen Länder gehörten damals zu Österreich-Ungarn“, erinnerte sich Iwan. Bei ihm stammte das natürlich aus Büchern; bei Niko — aus der Kategorie „als wäre es gestern gewesen“.
„Ich kam dorthin als Reporter. 1911 starb Joseph Pulitzer, der Herausgeber der New York World, und zwei Millionen Dollar gingen an die Columbia University, um eine Journalistenschule zu gründen. Sie wurde 1912 eröffnet. Ich überlegte damals, Amerika zu verlassen, schrieb mich aber schließlich dort ein.“
„Warum die Ukraine?“
„Im Westen des Landes sprach man Deutsch. Russisch konnte ich damals noch nicht.“
„Du kannst Russisch? !“, Iwan fuhr fast vom Sitz hoch.
„Da, ja svobodno mogy na nem govoryt‘“, sagte Niko, und er klang wie ein Großrusse — Iwan wurde davon regelrecht übel. Dann wechselte Niko ins Deutsche: „Aber darum geht es jetzt nicht. Ich war beeindruckt. Die Ukrainer stellten eine Armee aus Freiwilligen auf — die Legion der Ukrainischen Sitsch-Schützen, die für Österreich-Ungarn kämpften, in der Hoffnung, eines Tages unabhängig zu werden. Ich traf ihren Kommandeur, Mychajlo Haluschynskyj, und führte ein Interview mit ihm. Schade, dass es nie veröffentlicht wurde. Ich sah, wie die Österreicher nach der Niederlage in der Schlacht um Galizien glaubten, die Ukrainer würden ihren kleinrussischen Landsleuten helfen. Ich war im Internierungslager Thalerhof. Als die deutsch-österreichischen Truppen 1915 zum Gegenangriff übergingen, hinterließen die Russen verbrannte Erde. Sie plünderten, zerstörten, vertrieben die Menschen. Es waren Millionen, und ein Drittel überlebte die Umsiedlung nicht.“ Während Iwan Tränen in den Augen hatte, erzählte Niko das wie ein Märchen — mit Gefühl, aber doch distanziert. „Ein Jahr später griffen sie wieder an, mit der Brussilow-Offensive — sie besetzten Teile Galiziens und der Bukowina. Damals geriet ich in russische Kreise. Verurteile mich nicht, Iwan, für das, was ich jetzt sage, aber ich mochte sie.“ Iwan spannte sich an. Er dachte, es wäre unmerklich, aber es war offensichtlich. „Sie waren so amüsant! Ungebildete Bauern, aus den Dörfern eingezogen. Zäh, anspruchslos, meist ohne zu verstehen, warum sie überhaupt hier waren. Sie glaubten, sie verteidigten das Vaterland, aber die Kriegsziele hatte man ihnen nie erklärt.“
„Dann hast du da Russisch gelernt?“
„Nicht ganz“, antwortete Niko sanft. „Bald darauf ging ich nach Deutschland. Dort traf ich persönlich General Erich Ludendorff, und schon einen Monat später teilte ich mir einen Zug mit Lenin. Leider durfte ich nicht in den ‚versiegelten Wagen‘ hinein.“
„Wow“, brachte Iwan nur hervor.
„Ja, in hundertsechzig Jahren lernt man, Kontakte zu knüpfen und Dokumente gut zu fälschen. Ich fand Anschluss bei den Bolschewiki, und am siebten April wurden mit meiner Hilfe die Aprilthesen in der Zeitung Prawda veröffentlicht.“
„Du hast an die kommunistischen Ideen geglaubt?“, Iwan klang voller Zweifel; wie konnte Niko, der schon zwei Menschenleben gelebt hatte, auf so eine Utopie hereinfallen?
„Nein.“
„Warum dann …?“, ihm fehlten einfach die Worte.
„Aus demselben Grund, aus dem ich mitten in den Ersten Weltkrieg gefahren bin. Seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts litt ich an einer akuten Form chronischer Langeweile“, sagte Niko, während seine Hände mechanisch Schatten auf den gezeichneten Christus warfen. Iwan zeichnete dessen Profil immer verbissener. „Ich schloss mich den Bolschewiki an. Ich ging in die Ukraine — oder wie sie damals hieß, die Ukrainische Volksrepublik, die UNR. Ihre Regierung galt als konterrevolutionär, also erhoben wir uns selbst zu Rettern. Kiew zu stürmen war schwierig und sinnlos, wenn man stattdessen ein paralleles Machtzentrum schaffen konnte — klassische bolschewistische Taktik. Wir wählten Charkiw, weil es das größte Industriezentrum war. Und der Anteil der russischen oder russifizierten Bevölkerung war dort ebenfalls hoch.“
Iwans Bleistiftmine brach. Er saß unbeweglich, denn er wusste längst, was als Nächstes kam:
„Am elften und zwölften Dezember 1917 trat der Erste Gesamtrussische Sowjetkongress der Ukraine zusammen. Er wurde auf unsere Initiative hin einberufen, und die meisten Delegierten kamen aus Städten wie Jekaterinoslaw oder dem Donbass. Die Agrarregionen boykottierten den Kongress, da sie die UNR unterstützten. Wir proklamierten die Ukrainische Volksrepublik der Sowjets und erklärten sie zur einzigen rechtmäßigen Macht.“
„Aha, dann wurde Charkiw zur Hauptstadt.“
„Und blieb es bis 1934, als die Ukraine längst die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik war.“
„Wie lange warst du dort?“
„Oh, mehr als zwanzig Jahre“, winkte Niko ab. „Mein Studium an der Columbia University habe ich nie abgeschlossen. Ich wurde schnell Mitarbeiter der Außerordentlichen Kommission — ich unterdrückte antibolschewistische Aufstände und beseitigte Anarchisten, vor allem Machnowisten. Damals begann ich zum ersten Mal seit Langem wieder gut zu essen. Ich musste so viele Menschen töten, dass ich zehn weitere Vampire hätte ernähren können. Als Journalist hätte ich mir das nie erlaubt.“
Er hielt inne, malte Christus schwarz aus und wechselte das Thema:
„Ein Teil der Politik des Kriegskommunismus war die sogenannte Prodrazwjorstka — die zwangsweise Beschlagnahmung von angeblichen Lebensmittelüberschüssen bei den Bauern.“
„Ich hab davon gelesen“, nickte Iwan. „Sie versorgten damit die Armee und verkauften den Rest ins Ausland, um die Industrialisierung zu finanzieren.“
„1921 gab es im Süden der Ukraine eine Dürre. Der Süden war das wichtigste Agrargebiet, dort lebten dreißig Millionen Menschen. Die Sowjetmacht verschwieg das Ausmaß der Hungersnot, und selbst als Lenin ein Hilfsdekret unterzeichnete, gab es keine realen Mittel. Ich fiel nicht mehr auf — überall begannen die Menschen, einander zu essen.“
„Ich kann das nicht mehr hören!“, rief Iwan aufgebracht. Er stürmte wie eine Kugel über die Aussichtsplattform und hinunter.
„Was für ein Tempo!“, rief Niko ihm nach. „Gute Nachrichten, Iwan: Du verwandelst dich in einen Vampir!“
Er war in bester Laune und freute sich schon auf ihr morgiges Treffen in der Schule. Doch kaum sahen sie sich, schoss Iwans Herzfrequenz von siebzig auf hundert Schläge pro Minute. Dass sie überhaupt schlug, sprach für sich.
„Wie schrecklich, ich fühle mich wie ein Impotenter“, kommentierte Niko. Iwan murmelte etwas Unverständliches und ging weiter. Im Unterricht setzte er sich demonstrativ woanders hin.
Niko versuchte noch einige Tage, ihn zu erreichen, dann wechselte er zur Radikalität. Design der Kommunikation — das war gerade ihr letztes Fach; der Lehrer im dreiteiligen Anzug aus blumigem Stoff (jeden Tag ein neues Muster) dozierte über die Emotionsbereiche im Hirn und projizierte die sogenannte „limbische System“-Grafik an die Wand. Plötzlich stand Niko auf und schoss Iwan einen schiefen Blick zu. Selbst wenn er den Wink verstand — er folgte ihm nicht. Fünf Minuten später leuchtete sein Handy auf: Nachricht: „Ich warte auf dich.“
Iwan — Nikos Wille, auf seinem Territorium ein Leibeigener. Kein Sklave, denn das wäre zu universal; Leibeigenschaft — ein rein russischer Begriff. Er verließ den Unterricht, begleitet von irgendeinem obszönen Gelächter. Dass Niko auf der Toilette war, wusste er plötzlich. Eigentlich hatte er seinen Aufenthaltsort schon öfter erraten. Die weißen Fliesen waren mit allerlei Zeichnungen bedeckt — von cartoonhaften Ponys aus der My Little Pony-Franchise bis zu karikaturhaften nackten Männern. Niko lehnte sich an einen blauen Außerirdischen, verdeckte ihn nur zur Hälfte, und rauchte jemandes E-Zigarette. Iwan wusste noch, dass er selbst so etwas nicht besaß.
„Warum redest du nicht mit mir?“, fragte Niko frontal, schaute ihm in die Augen. Rückzugschancen gab es nicht.
„Du hast mir gerade offenbart, dass du dich entschieden hast, Ukrainer zu töten“, zischte Iwan und betonte das Wort Entscheidung. „Du bist böse, ein völlig verdorbener Mensch!“
„Verstanden“, sagte Niko, vielleicht energetisch noch stärker als sonst — er schien Iwan’s nervösen Zusammenbruch wie eine Show zu genießen. „Du machst dir so viele Sorgen, als wären sie deine Familie gewesen.“
„Das hätten sie durchaus sein können“, die Fäuste juckten Iwan, er versteckte sie tief in den Taschen.
„Na hör, entschuldige doch“, Niko machte einen Schritt vor, Iwan spiegelte ihn mit einem Schritt zurück und drückte sich gegen die Tür. Ein Druck auf den Griff hätte ihn hinausgelassen. In diesem kurzen Zögern drehte Niko das Blatt zu seinen Gunsten: „In jener Zeit starben so viele Menschen, dass ich das Gefühl für den Wert eines Lebens verlor. Aber weißt du, wie ich Lesja kennengelernt habe? Ich rettete sie 1932 vor dem Hungertod.“
„Was?“, Iwan hatte plötzlich keine Lust mehr zu gehen; neugierig rückte er näher.
„Ja“, grinste Niko zufrieden über seinen Streich. „Deshalb mag sie mich nicht so sehr. Ich habe ihr versprochen, dass sie leben würde — und ganz vergessen dazuzusagen: für immer.“
„Also… sie ist jetzt über hundert Jahre alt?“
„Einhundert neun“, stellte Niko klar. „Bei ihrer Verwandlung war sie gerade siebzehn. Weißt du, wie der Holodomor begann?“
„So ungefähr. Aber erzähl du.“
„Es war ein Genozid — eine Politik des stalinistischen Regimes“, Nikos gesenkter Blick war selten, als ob Empathie keimte. „Ab 1929 begann die Zwangskollektivierung — die erzwungene Vereinigung einzelner Bauernhöfe in Kolchosen. Land, Vieh, Geräte wurden zur kollektiven Eigentümerschaft. Die jahrhundertealten Grundlagen bäuerlichen Lebens wurden vernichtet! Wohlhabende, sprich fleißige Bauern, wurden als ‚Kulaken‘ bezeichnet und als Klasse liquidiert — erschossen oder nach Sibirien deportiert.“
„Wie du schon sagtest… klassische Taktik der Bolschewiki.“
„Ja. Hungersnöte gab es schon in den Zwanzigern und wieder in den Vierzigern. Aber damals, in den Dreißigern, setzte der Staat für die Kolchosen ein unrealistisches Abgaberegime für Getreide durch. Die Quoten überstiegen die gesamte Ernte. Um den Plan trotzdem irgendwie zu erfüllen, schickte man die sogenannten ‚Brigaden der 25‑tausend‘ — Arbeiter aus den Städten, die ohne Rücksicht alles konfiszieren, auch die Vorräte für die kommende Aussaat und das Futter. Ich erinnere mich noch genau: der 7. August 1932, das Gesetz Zum Schutz des Eigentums staatlicher Betriebe, Kolchosen und Genossenschaften und zur Stärkung des öffentlichen — sozialistischen — Eigentums. Oder im Volksmund das Gesetz der fünf Ähren. Es führte Strafen ein — Erschießen oder zehn Jahre Lagerhaft — für den Diebstahl genossenschaftlichen Eigentums. Diebstahl war in vielen Fällen, wenn ein paar Ähren vom Feld aufgehoben wurden, um sterbende Kinder zu ernähren. Denn, um ehrlich zu sein: die Leute fielen wie die Fliegen dahin.“
Iwan bekam verstopfte Nasengänge, Tränen liefen ihm übers Gesicht. Er hatte Pamphlete gelesen — etwa Iwan Bahrianyi „Warum ich nicht in die UdSSR zurückkehren will?“ — und erinnerte sich an diesen Absatz: „Nehmt die Kleine Sowjetische Enzyklopädie von 1940, schlagt unter dem Buchstaben ‚U‘ nach und lest im Artikel ‚USSR‘, was dort steht. Das ist ein Dokument. Dort steht schwarz auf weiß, wenn auch in kleiner Schrift, dass die Sowjet‑Ukraine nach der Volkszählung 1927 eine ukrainische Bevölkerung von 32 Millionen hatte, und 1939, also zwölf Jahre später… 28 Millionen. Nur 28 Millionen! Wo sind die 4 Millionen Menschen von 1927 geblieben? Und wo ist das Bevölkerungswachstum, das in zwölf Jahren mindestens 6—7 Millionen hätte betragen müssen? Zusammen sind das mehr als zehn Millionen. Wo sind diese zehn Millionen Ukrainer hingekommen? Was ist mit ihnen im Land des blühenden Sozialismus geschehen?“
„Wie viele sind damals gestorben?“, fragte er. „An Hunger, meine ich.“
„Das hat niemand gezählt. Soweit ich weiß, mindestens vier Millionen Ukrainer.“
Das Bild fügte sich zusammen. Russland — die Entrechtung der Ukraine; die UdSSR — der ukrainische Genozid.
„Mich hat es nach Ternopil verschlagen, von dort in Dörfer und Kleinstädte. Es gab Frauenaufstände, die Leute schrieben Briefe an Zentralzeitungen und höhere Behörden. Aber die Sowjetmacht funktionierte wie eine verschlingende Maschine unter dem Motto Industrialisierung um jeden Preis. Ich traf Lesja in einem Wald bei Blyshchenka, einem Dorf im Rajon Zalischchyky. Sie aß Baumrinde. Unterernährung hatte sie grau gemacht. Ihr Gesicht war aufgedunsen, die Gliedmaßen geschwollen. Als ich ihre Hand berührte, blieb eine langsam verschwindende Delle in der Haut; in ihrem Blut fehlte fast das gesamte Eiweiß. Kein Albumin, keine Glukose, keine Vitamine.“
Als Niko endete, war Iwans Gesicht unvorteilhaft errötet. Er zog sein Handy, um auf die Uhr zu sehen.
„Wir sollten zurückgehen. Geh voraus.“
Niko gehorchte. Iwan blieb stehen, betrachtete sich im Spiegelbild. Sein Haar war länger, seine Augen hatten etwas welpenhaftes — wie ein Abbild Christi. Er fand kein Urteil gegen Niko in sich, nur Trauer über dessen Sünden, und war deshalb zur Vergebung bereit.
Iwan betrat das Klassenzimmer, während Niko sich setzte. Die Stunde war fast vorbei. Der Lehrer murmelte ein mitleidiges „ach ja“, verzichtete aber auf eine Rüge. Die Mitschüler tauschten gehässige Blicke — bis sie Iwans Zustand sahen. Niko unterband ihre Fragen scharf, ob aus imperativer Macht oder schlicht wegen seines finsteren Gesichts, blieb unklar. Er konnte einschüchternd und verführerisch, dumm oder berechnend sein. Iwan fiel ein: in ihm stecken ja etwa zehn Persönlichkeiten unter einer Haut.
Er ging nach Hause, während es in ihm kochte. Eine unklare Kraft vollzog mit jedem Herzschlag einen vollständigen Kreis durch seinen Körper — also verschmolz sie mit dem Blut. Die Fingerspitzen fühlten sich elektrisiert an, wurden bläulich, und er fühlte sich taub. Abgestorben, also halb tot. Ist das nicht die Essenz des Vampirismus?
Er musste mit Lesja sprechen. Nachrichten auf ihr Telefon kamen nicht an, nur der Anrufbeantworter nahm ab. Er warf seinen Rucksack in sein Zimmer, starrte eine Minute lang hypnotisiert auf den Brei, aber essen wollte er überhaupt nicht. Auf der bekannten Route (er hatte sie bereits vermisst) fuhr er mit der Straßenbahn Nr. 5 an Seniorenzentrum, Pädagogische Hochschule, dem Regenbogen-Mural vorbei und sprang an der Keplerbrücke aus. Er lief ums Haus herum wie ein verlorener Mensch zwischen drei Kiefern. Schließlich klingelte er an der Gegensprechanlage:
„Hallo?“, Lesjas Stimme war durch den Synthesizer erkennbar, aber sie klang gereizt, zehn Jahre zu alt gealtert.
„Lesja, hi“, krächzte er, „ich bin’s, Iwan. Lass mich rein?“
Sie schwieg, und er dachte schon, dass dies das endgültige Aus in ihrer Freundschaft sein könnte. Doch die Gegensprechanlage summte, das Schloss klickte, und er stürzte schwindelerregend die Treppe hinauf.
Lesja sah schlecht aus. Äußerlich hatte sie sich natürlich nicht verändert, doch energetisch stimmte etwas nicht. Iwan erinnerte sich: sie strahlte früher. Und sie war so lebendig, dass die Kälte ihrer Hände keinen Gedanken daran zuließ — niedriger Blutdruck, so what. Jetzt war Lesja wie ein Pappkarton mit gemaltem Gesicht; eine verschleppte Aphrodite von Knidos, zehn Grad weiter nach vorn gebeugt.
„Hi“, sagte sie. Das Wort hatte einen Klang, aber keine Kraft, es war nicht weltgestaltend.
„Lange nicht gesehen“, sagte Iwan und fürchtete, dass die heilige Kraft ihn über die Schwelle nicht lassen würde — doch es war nur ein weiterer Popkultur-Mythos. Oder vielleicht lag es daran, dass er noch kein Vampir war.
„Nikolas hat versucht, dich zu verwandeln“, sagte sie, die Intonation an der Grenze zwischen Aussage und Frage. Richtig als Aussage, völlig unpassend als Frage.
„Woher weißt du das?“, mit filmreifer Bewegung warf Iwan seinen Mantel ab und starrte sie stumpf an.
„Ich habe gespürt, dass du nach mir suchst. Und es war ein konkreter Befehl — ich musste zurück nach Österreich.“
Iwan sah sich um: die Wohnung wirkte tatsächlich unbewohnt. Leere Regale, kahle Wände, saubere Tische. Als er das letzte Mal hier war, und bei allen vorherigen Besuchen, herrschte hier kreatives Chaos.
„Wo warst du?“
„Durch Europa gereist.“
„Auch in der Ukraine?“, Iwan verstand selbst nicht, warum er fragte.
„Nach dem 24. Februar habe ich mich endlich entschieden: Meine Füße werden dort nicht mehr sein.“
„Also die ganze Zeit, seit … welchem Jahr bist du geboren?“
„1928.“
Sie wollte weitersprechen, doch Iwan unterbrach:
„Moment, 1928 — das ergibt keinen Sinn. Niko hat gesagt, dass er dich vor dem Holodomor gerettet hat.“
„Was für ein Intellektueller!“, Lesja lachte nicht, sie prustete wild los und hielt sich den Bauch: „Die westlichste Region, die vom Holodomor betroffen war, ist Chmelnyzkyj. Ternopil gehörte bis 1939 zu Polen, und erst dann, mit dem Molotow‑Ribbentrop‑Pakt, besetzten uns die Bolschewiki“, blitzten ihre Augen, poliert wie ein Lügendetektor, der offenbar den Ersten Weltkrieg nie wirklich gesehen hatte. „Deswegen bist du hierhergekommen, nicht wahr? Du willst meine Geschichte hören.“
Iwan widersprach nicht. Er setzte sich auf das Sofa und winkte Lesjas Entschuldigungen ab — sie habe ja nichts im Haus zu bieten. Den Wasserkocher habe sie verkauft, und überhaupt glaube sie, Iwan sei auch ein Vampir.
„Ich wurde in Zalischchyky geboren, und mein ganzes Bewusstsein — mein Leben — verbrachte ich in Blyshchenka, einem Dorf in der Oblast Ternopil mit etwa fünfhundert Einwohnern“, begann sie; Iwan nickte — er hatte das schon gehört. „Mein Vater hieß Kyrylo Stadnyk. Er war Schneider, besaß viele Felder und baute einen Lesesaal für die Leute; er leitete die Gesellschaft ‚Prosvita‘. Er abonnierte Zeitungen. Er trug entweder eine Vyshyvanka oder ein einfaches Hemd. Nach sowjetischen Maßstäben — ein typischer Kulak. Als West‑Ukraine Teil der USRR wurde — ich weiß das Jahr nicht mehr genau — kamen sie eines Nachts und holten ihn.“ Lesja wandte sich ab; ihre Stimme zitterte. „Ein paar Tage später holten sie meinen Bruder und mich ins Gefängnis. Drei Wochen saß ich in Tschortkiw. Auf dem Fußboden mit anderen Frauen, die dieselbe Geschichte erzählten, und wir suchten uns gegenseitig nach Läusen ab. Diese Läuse — sie waren überall!“, man spürte, wie sie um den Hauptpunkt herumtänzelte; die Wunde war noch unaufgearbeitet, das Wiedererleben eine Qual. „Dann, 1946, erschienen in den Zeitungen Dekrete über Kollektivierung. Was das sein sollte, wusste niemand. Die Bolschewiki hatten Listen — sie wussten alles über uns — und sie kamen zuerst zu den Wohlhabenden. Sie kamen und sagten: Also, ihr habt drei Kühe und ein Pferd, und das hier und das — das Gesetz verlangt, alles zu enteignen. Ich schlug unserem Pferd Eisen in das Huf, damit es lahmte. Aber sie nahmen trotzdem alles. Säcke mit Getreide warfen sie auf einen LKW und fuhren davon.“
Sie schwieg lange. Sehr lange.
„Lesja?“, Iwan stand auf und trat dicht an sie heran. Sie windete sich, schob wie einen Panzer den Rücken vor. Ein äußerer Einfluss jagte einen elektrischen Schlag durch seinen Körper und warf ihn wieder auf das Sofa zurück.
„Mein Bruder widersetzte sich“, schluchzte sie. „Und diese Prodotryady, die hatten Waffen und totale Narrenfreiheit. Einer zog eine Pistole aus dem Holster und …“ — der Satz endete ohne Punkt, aber war dennoch vollständig. Leise fügte Lesja hinzu: „Es war Nikolas, der schoss. Ich hab geweint, und sie haben mich verprügelt.“
„Gott, Lesja …“, Iwan streckte die Hand nach ihr aus. Doch seine Hände hatten Niko so oft berührt, dass er sich selbst zurückhielt — zuerst müsste er sie gründlich waschen, dachte er. „Warum hast du mir das nicht erzählt?“
„Verzeih mir“, drehte sie sich endlich um und zeigte ihm ihr Gesicht. Ihre Glieder waren nicht mehr geschwollen, doch sie sah völlig grau aus. „Nikolas ist fast dreimal so alt wie ich, und sein Wille ist stärker als meiner.“
„War er es, der dich verwandelt hat?“, trotz all der Schlingen um seine Ohren hoffte Iwan, dass wenigstens ein Teil von Nikos Erzählung wahr sei.
„Doch“, nickte Lesja. „Er wohnte im besten Haus des Dorfes, das man‚ einem Kulaken‘ — unserem örtlichen Priester — weggenommen hatte. Im Grunde eine Wohngemeinschaft — dort lebten auch andere Moskali. Auf sie verübte man regelmäßig Übergriffe, und merkwürdigerweise trat Niko fast immer als Redner auf. Ich vermute, das Blut der hungernden Ukrainer schmeckte fade; die Bolschewiki hatten Brot, Konserven, Getreidevorräte. Im Keller jenes Hauses hielt man festgenommene Sabotageverdächtige — sie starben an Erschöpfung oder fanden einen Weg, sich das Leben zu nehmen.“
Sie umging lange die eigentliche Stelle. „Es gab so etwas wie Selbstjustiz“, fuhr sie dann leise fort. „Wenn die Leute einem besonders brutalen Beauftragten das Handwerk legten.“
„Ich habe davon gelesen. Viele Männer in den Dörfern waren Frontsoldaten und kannten keine Furcht mehr“, sagte Iwan.
„Ja. Mehr noch: seit 1929 wirkte die Organisation Ukrainischer Nationalisten, ab 1942 die Ukrainische Aufstandsarmee. Sie führten Partisanenkrieg.“
„Und was hast du getan?“
„Ach ja. Ich verfolgte Niko und versuchte, ihn zu töten.“ Iwan hatte es erwartet, und trotzdem pfiff er überrascht. „Ich hatte eine Axt, und drei Schulfreundinnen waren dabei. Wir spürten ihn nachts im Wald auf — er ging oft dorthin. Ich schlug von hinten zu und rammte ihm die Axt in die Schulterblattregion. Wenn du Niko jemals nackt gesehen hast, hättest du die Narbe bemerkt. Wir rannten sofort weg — hofften, er würde die Pistole ziehen; hofften, er blute aus. Aber Niko schrie nicht, verzog kaum das Gesicht. Er krümmte sich seltsam, zog die Axt aus sich heraus und holte uns im Nu ein. Er bewegte sich so, dass sein Körper zu verschwimmen schien; meinen Freundinnen brach er alle Knochen. Mir sagte er nur, ich sei mutig. Er zwang mich, sein Blut zu trinken — du weißt ja, wie so eine Verwandlung abläuft.“
„Und du wurdest beim ersten Mal verwandelt?“, Iwan konnte seine Neugier nicht verbergen.
„Ja“, erwiderte Lesja mit durchdringendem Blick. „Aber so läuft es nicht immer.“
„Er hat versucht, mich zum dritten Mal zu verwandeln“, warf Iwan ein.
„Ha‑ha, bei Gott, Impotent!“, Lesja lachte höhnisch.
„Er hat mir dasselbe gesagt“, murmelte Iwan.
„Ich weiß nicht, wovon das abhängt“, unterbrach sie sich selbst, stand auf und sagte knapp: „Ich muss los. In drei Stunden habe ich einen Flug.“
„Wohin?“, fragte Iwan, die Stimme piepsig.
„Nach Zürich.“
Sie griff nach ihrer Handtasche. Zusammen traten sie auf die Straße. Sie sagte „Leb wohl“, als bliebe es ihr gleichgültig. Ihr Kuss auf seine Wange war ein Judas‑Kuss — er wusste instinktiv, dass er Christus nicht wiedersehen würde.
Und dann — Ortweinschule: Singularitätspunkt, Ort des Zusammenkommens, unveränderlich. Niko verhielt sich, als sei nichts geschehen — also wie ein liebevoller Freund. In seinen Händen fühlte Iwan sich schmutzig. Er ertrug seine Berührungen, seine Stimme, sein Gesicht nicht. Er hörte Niko sprechen und glaubte keinem Wort. Er suchte in ihm nach Schönheit. Doch eine seiner ästhetischen Komponenten — eine Chatterji‑artige Triade — stellte zwischen „Nik“ und „attraktiv“ plötzlich kein Gleichheitszeichen mehr.
„Wir trennen uns“, sagte er und riss das Pflaster ab. Die Haut begann zu jucken; eine verkrustete Wunde öffnete sich.
„Wie bitte?“, Niko blickte ungläubig, als wolle er sagen: ‚Das hab ich wohl falsch verstanden. ‘ Dann kam eine noch heftigere Reaktion: „Hast du das wirklich durchdacht?“
Iwan empfand seine Worte nicht als Drohung und antwortete ehrlich, ruhig:
„Ja.“
Er fragte nicht, warum — er hatte es vermutlich selbst verstanden. Er stimmte nicht zu, lehnte nicht ab, murmelte etwas wie „klar“ und verschwand dann hastig. Noch eine seiner Superkräfte: spurlos plötzlich zu verschwinden.
In der Schule tauchte er nicht mehr auf. Die Lehrer sagten alle gleich, dass er noch als Schüler registriert sei, aber abwesend, weil er sich eilig für Erasmus angemeldet habe. Merkwürdig: normalerweise dauert Erasmus entweder ein ganzes Jahr oder ein Semester. Bei Niko war es irgendwie in Stücken. Iwan versuchte nicht, Kontakt aufzunehmen. Er hoffte, dass ihre gemeinsame Geschichte nun zu Ende sei.
Die Gitarre hatte er beiseitegelegt — niemand war da, für den er spielen konnte. Sie lag traurig in der Ecke und sammelte Staub. Der 24. Juli fiel auf einen Dienstag; nach dem gregorianischen Kalender schien es ein Feiertag zu sein. Iwan zählte dreizehn Tage — der 6. Juli — und lächelte kurz. Sein Signaturtag.
Es klingelte an der Tür. Die Mutter, bereits in ihrem Nachthemd, ging erstaunt öffnen. Iwan zündete sein Handy mit einer Berührung an — halb elf. Draußen war Nacht, und in den Fenstern der Nachbarwohnungen ging das Licht langsam aus.
„Niko, ich hätte nicht erwartet, dich so spät zu sehen!“, die Mutter fing sofort an, hektisch Tee aufzusetzen und stellte allerlei Süßes auf den Tisch. „Setz dich, bedien dich. Du bist also zu Iwan gekommen?“
„Guten Tag“, brachte Niko endlich hervor. „Danke, ja.“
Iwan wurde schlecht: für seine Mutter blieb Niko sein wohlhabender bester Freund. Die orthodoxen Dogmen schränkten ihren Blick ein, und falls die Spannung zwischen ihnen spürbar war, fehlte jegliche Deutung. Sie hatten sich seit etwa drei Monaten nicht gesehen. Iwan wünschte sich, dass sie sich wie Fremde betrachteten. Aber Niko lächelte freundlich, als ob er Iwan immer noch — irgendwann! — liebte:
„Schön, dich zu sehen! Wie geht’s dir?“
Iwan — total schwarz, Niko — total weiß, und so waren sie füreinander Engel gefallen und Wolf im Schafspelz. Der Wasserkocher klickte — das Wasser begann zu kochen. Die Mutter begann, Wasser in die Tassen zu gießen, aber noch bevor sie die erste halb gefüllt hatte, stellte sie den Wasserkocher zurück. Sie blieb stehen, murmelte „ich leg mich kurz hin“ und drehte sich um, um zu gehen.
„Sie wird in ihrem Zimmer bleiben“, bemerkte Niko wie Ludwig XIV. , und alles an ihm schrie: „Der Staat bin ich.“ „Wir reden solange.“
Iwan wollte frech sein, so nach dem Motto, worüber sollen wir reden. Aber über ihm stand kein Mensch — ein Raubtier; ein falscher Schritt, und es würde ihn töten.
„Ich höre“, presste er hervor.
„Sag mir“, die Zahnräder drehten sich, Niko wählte seine Worte sorgfältig, „konkret in unserer Beziehung, was ich falsch gemacht habe?“
„Du sagst es mir“, platzte Iwan heraus, „warum gehst du mir so auf die Nerven? ! Ich habe ‚ich will nicht‘ gesagt — du könntest weggehen und dir jemand anderen suchen.“
„Aber ich liebe dich“, warf Niko seine Trumpfkarte. Er hatte nur vergessen, dass die Spielregeln Poker sind und die Stärke der Hand durch die Kombination der Karten bestimmt wird. Und Iwan war misstrauisch, verloren, völlig wütend.
„Dir ist einfach langweilig.“
„Vielleicht, aber das schließt einander ja nicht aus“, sagte Iwan. Ein scharfes Verlangen, Niko eine zu verpassen, stieg in ihm auf, aber angreifen hatte er historisch nie gelernt. „Ich sage es anders: Iwan, ich vermisse dich.“
„Wann hast du aufgehört, an Gott zu glauben, Niko?“
„Was?“, die Frage traf ihn völlig unvorbereitet.
„Du warst Kanoniker, hast im Klerus gearbeitet“, erinnerte Iwan. Dieser Teil von Nikos Biographie war wahr, vielleicht ein wenig in Vergessenheit geraten. „Da musste doch wenigstens ein Funken christlichen Glaubens in dir sein.“
„Ja-a“, zog er die Antwort lang wie ein Stöhnen, und sein Gesicht nahm die Form eines obszönen Emojis an. Die Lippen spitzten sich und stießen in die Wange, als wollten sie sie durchbohren. „Lange Zeit habe ich geglaubt, dass Gott existiert, nur dass er sich von mir abgewandt hat — aus einem verständlichen Grund“, er grinste provokant, aus den Lippen rollten die Eckzähne hervor. „Erinnerst du dich, im Jahre 1863 trat ich an der Karl-Franz-Universität ein, und 1868 schloss ich sie ab. Claude Bernard wurde auf mich aufmerksam — ein französischer Mediziner, vielleicht kennst du ihn als Forscher der inneren Sekretion“, Iwan schüttelte den Kopf: der Name sagte ihm nichts. „Ich zog nach Paris und begann ein Praktikum bei ihm. Er überhäufte mich mit Aufgaben, ließ mich keine Minute allein. Ich hatte keine Möglichkeit, an Blut zu kommen. Langsame Gedanken — das war nichts, und ich dachte, ich könnte so leben. Mit Sonnenenergie und Gottes Willen. Dann kam die existentielle Krise: Ich begann, mich selbst zu hassen und versuchte, den Vampirismus abzulegen. Reizbarkeit wich Apathie, danach trat Psychose ein. In visuellen Halluzinationen sah ich, wie die Tiere, mit denen ich arbeitete, bluteten. Ich sah ihr Innerstes, und sie sprachen mit mir in primitiver Sprache“, er schnaubte, selbstironisch. — „Eine deliriöse Manie wurde schnell diagnostiziert. Man brachte mich in die psychiatrische Anstalt — Bicêtre.“
Niko tastete nach dem Kragen seines Hemdes. Seine Finger glitten über einen Knopf, lösten ihn.
„Damals war ich psychisch krank — kein Mensch mehr. Die Festung am Rande von Paris glich eher einem Gefängnis. Wir lebten in riesigen Schlafsälen, „Dortoirs“, hunderte zusammen. Die einzigen Lichtquellen waren die hohen vergitterten Fenster. Am meisten wollte ich dort raus.“
Der zweite Knopf glitt aus der Schlaufe.
„Und ich bin rausgekommen. Wie sagt man so schön? „Fürchte deine Wünsche“ — ungefähr so verlief mein Weg. Ein bekannter Arzt — Franz oder Philipp, — verlegte mich in ein Lehrkrankenhaus, praktisch ein isoliertes Zimmer“, — nach dem dritten Knopf zeigte die Haut einen Defekt: hypertrophische Narbe, dunkelrosa. Iwan verstand jetzt, warum Niko Zölibat hielt. — „Zuerst setzten sie mich „tierischem Magnetismus“ aus — erinnerte sich, der Arzt hieß Franz Anton Mesmer, — doch bald bemerkte man wohl meinen Unterschied zum Menschen.“
Der vierte Knopf, der Schnitt wurde tiefer — wie eine mittlere Laparotomie. Iwan erkannte ihn: bei seiner Mutter sah er ähnlich aus, nach einem Kaiserschnitt. Farblos und viel gerader.
„Woher hast du das?“ — die Finger glitten einen Millimeter über den Stoff, zogen sich sofort zurück.
„Man hat mich vivisektiert. Man erforschte die Reize des übernatürlichen Körpers“, Niko zog sich aus, wie Orwells Julia — mühelos; warf das Hemd auf den Boden. Arme ausgestreckt, wie der Vitruvianische Mensch. Die Narbe zog sich bogenförmig um den Nabel, an den Seiten verstreuten sich Punktreihen — parallele Spuren von chirurgischen Klammern. Auf der Schulter ebenfalls eine Narbe — Lesjas „Gruß“.
„Und, hast du beschlossen, Rache zu nehmen?“
„Nein“, Iwan hatte das Gefühl, dass Niko in diesem Moment ehrlich war. Mit einer anderen Strategie wäre er unwiderruflich weggeschickt worden. „Das war der Moment, der mein Leben in ein „vorher“ und „nachher“ teilte. Vor der Ermordung Gottes und danach. Und wenn es Gott nicht gibt, ist alles erlaubt.“
Nein, Iwan änderte seine Meinung: er wollte, dass Niko verschwindet. Und all seine Wunden, angesammelt in zweihunderteinundsiebzig Jahren, nahm er mit. Iwan war achtzehn — Niko hatte fünfzehn solcher Leben durchlebt, und allein deshalb waren sie als Persönlichkeiten unvergleichbar. Iwan hatte sich ausgedacht, was er sagen würde und wie. Es klappte nicht.
„Du wirst mich nicht fortjagen, Iwan“, die harten Worte trugen den Befehl in sich und hatten eine zerschmetternde Wirkung. Iwans Körper wurde auch zu seinem Körper; sein Gesicht — ihr gemeinsames Gesicht. Es geschah eine Substitution. Die Schaffung eines neuen Totems. „Du wirst Mitleid mit mir haben. Im Grunde bin ich gar nicht schlecht.“
Alles, was Iwan sagen wollte, steckte er zurück in seinen Hals. Er fühlte sich besetzt — rechtlos. Und Niko hielt ihn mit Sicherheit auch dafür. Schließlich hatte er länger in der Sowjetunion gelebt als in einer unabhängigen Ukraine, und an seine dominante Stellung war er längst gewöhnt.
„Beiß mich“, Iwan gehorchte gegen seinen Willen. Sein Körper verriet ihn — stärker als sein Verstand. Er biss in Nikos Lippen. Die Hände umschlangen den Hals in dem verstockten Wunsch zu erwürgen, und er fühlte sich leblos an — die Temperatur der Umgebung übernehmend, holzartig, wie nach einer Formalinbehandlung. So jemand sollte in einem Mausoleum zweitausend Kilometer von hier ruhen. Doch Niko war offenbar enttarnt, und man hatte ihn herausgebracht. Blut floss über die Zunge.
Niko schmiegte sich an Iwan und verbarg sich hinter ihm. Seine Reihe. Der letzte Versuch im Vampirismus — sonst war der ganze Zirkus sinnlos. Er beugte sich zum Hals, tastete die hervortretende Arterie, suchte die Stelle, wo er zubeißen könnte. Wenn Iwan überleben würde — würde er leiden, wenn die Verwandlung fehlschlug — nun ja, dann würde er sterben. Iwan wurde durch ein rechtzeitiges Zucken gerettet. Niko verfehlte, und seine Zähne trafen nur eine Vene. Er war gierig, trank wie ein Wahnsinniger, wie in den letzten fünfzig Jahren nie zuvor (seit der Gründung der Helsinki-Gruppen). Iwans Hände konnten seine Arme nicht zurückschieben — er musste sprechen:
„Moyeu mowoyu ty, znatschyt‘, ne rozmowlyayesch? », er vermied bewusst das Wort „ukrainisch“, um keinen Kontext zu liefern.
„Ich verstehe nicht“, funktionierte. Niko löste sich vom sanguinären Opfer und presste sogar die Wunde.
„Willst du also sagen, dass du zwei meiner Leben in der Ukraine verbracht hast, aber die Sprache immer noch nicht gelernt hast?“
Niko wirkte überrascht, als wäre Iwan vom Mond gefallen:
„Wozu?“
Iwan schlug aus vollem Arm. Er dachte, Niko würde nichts passieren, doch der flog tatsächlich weg. Er begann zu schreien. Deutsche Worte verbanden sich nicht im Logos, blieben einzeln, deshalb übernahm das Ukrainische. Niko schaffte es nicht aufzustehen — Iwan trat ihm in den Bauch, und er krümmte sich reflexartig wie ein Embryo, begann den Rücken zu hämmern. Die Wirbel traten hervor. Offenbar war etwas gebrochen. Es war so seltsam — Niko zu schlagen, wo er doch tatsächlich schwieg. Den Fluchtversuch unterband Iwan mit rasender Geschwindigkeit, packte ihn am Kragen, an den Haaren, schlug ins Gesicht. Niko wollte nicht, stellte aber reflexartig die andere Wange hin. Noch eine Minute zuvor hatte Iwan sich als Mensch gefühlt, plötzlich war er wild. Er konnte sich zu etwa dreißig Prozent selbst Bericht erstatten, und selbst dann nur auf die Frage „warum?“ Iwan verteidigte sich. Er prügelte Niko jede Dummheit aus, sonst hätte dieser ihn vollständig ausgefüllt. Blut floss aus der Nase. Niko schlug überhaupt nicht zurück. Iwan schleuderte ihn gegen die Wand — es war ein Schaumstein, der sich nach dem Körperkontur eindrückte. Nikos Rückenlinie verschob sich. Er rührte sich, fand Iwan mit verschwommenem Blick, und dieser schlug erneut. Die Nase knackte.
In einem Zustand größter Affektkontrolle schleifte Iwan ihn die Treppenhäuser hinunter auf die Straße. Dann weiter zur Containerstelle, dorthin, wo niemand suchen würde. Er warf ihn in den Glascontainer. Zehn Meter ging er, dann blieb er stehen, zwang sich zu atmen. Die Lungen pfiffen, er saugte so viel Luft ein, dass es schien, als würde sie zerbersten. Er berührte den Biss an seinem Hals und stellte sich im Anfall von Erstickung vor, dass ein Ouroboros sich mit tödlichem Griff um ihn geschlungen hätte. Ein geschlossener Kreis. Die Glieder kribbelten, unfähig, ihn weiter zu halten. Er fiel auf den Asphalt.
Er saß lange. Saß, bis im letzten Fenster des gegenüberliegenden Hochhauses das Licht vollständig erlosch. Dann nahm er den Wischmopp in die Hand. Er googelte fieberhaft, wie man Blut scheinbar spurlos von Betonstufen entfernt, aber ChatGPT benahm sich wie eine echte Mistkröte — zensierte. „Kann nicht helfen“, hieß es. Seine Mutter schlief. Damals stimmte er sich auf einer Über-Ebene mit den Menschen ab, konnte exakt sagen, wie viele da waren, in welchem Abstand, wer bereits schlief. Google war kooperativer — riet ihm zu Wasserstoffperoxid. Bis drei Uhr nachts hatte Iwan die ganze Wohnung und das Haus geputzt.
Vor Ort ging es ihm schlecht. Bewegte er sich nicht, schwammen die Wände, badeten in einem Blutbad, veranstalteten einen Hexensabbat. Überall wuchs Farn durch den Beton, keine einzige Blume war zu sehen. Er dachte zu laut. Ging in Dialoge, weil er glaubte, dass dort noch jemand sei.
Dieses Mal nahm er den Aufzug. Der Geruch von Blut war für ihn wie eine Flagge für den Stier, und die Frage war, wer dann der Torero sei. In den Kopfhörern dröhnte auf voller Lautstärke „pidu wtopliusia u ritschtsi hlybokii“, und ihm wurde plötzlich lustig, lustig, lustig. Die Straßenlaternen waren bereits erloschen, und den Weg beleuchteten ihm der abnehmende Halbmond zusammen mit dem Polarstern. Er wusste nicht, wohin seine Beine ihn trugen, nahm die Welt um sich herum zu intensiv wahr — auch emotional. Er resonierte mit dem Wind, fühlte das Wachstum der Bäume, hörte das unterirdische Leben der Insekten an seinen Füßen. Was er nicht hörte, waren Herzschläge.
Nikos Blut war Teil von ihm geworden, festigte ihr Bündnis. Sein Äußeres erhielt avantgardistische Züge: Proportionen verzerrten sich, gingen in Abstraktion über — er war nicht mehr er selbst, reflektierte „Wer bin ich?“ und erhielt keine Hinweise von innen. Er rannte hinter der Ortwein-Schule zur Flussseite, bewegte sich entlang der Uferpromenade. Vom Wasser trennte ihn eine naive Holzwand. Es hätte ihn keinen Aufwand gekostet, sie zu zerbrechen. Aber er rannte, stolperte, rannte, bis er unter der Brücke landete. Dort — ein Pfad durch Büsche, direkt ans Ufer. Er sprang über Pflastersteine. Als keine mehr da waren, standen seine Füße im Wasser.
Der Fluss war nicht tief, aber schnell. Iwan fiel, und die Strömung trug ihn ins Herz von Graz. Sein Körper passte sich der Temperatur an, und er hatte diesen russischen Schluss für sich bereits angenommen — den unglücklichsten überhaupt. Als Ukrainer war er doppelt unglücklich. Der Fluss weitete sich, gewann Tiefe. Er verschwand vollständig unter Wasser.
Wie er wieder auftauchte, wusste er nicht. Konnte nicht sagen, ob der verwesende Körper an die Oberfläche gestiegen war (in warmem Wasser hätte das ein bis drei Tage gedauert, die Infos wurden ihm, wie üblich, vorenthalten) oder ob ihn jemand gerettet hatte. Ärzte sagten, er habe wie durch ein Wunder überlebt, es sei eine klinische Todeserfahrung gewesen. Die ersten Tage lag er am Beatmungsgerät, mit mittelgradigem ARDS (akutes respiratorisches Distress-Syndrom — die Lungenbläschen sind mit Flüssigkeit gefüllt, ständige Atemnot) und Hirnödem. Den Rest des Sommers verbrachte er auf starken Antibiotika — kämpfte gegen Aspirationspneumonie.
Er war ein Mensch geblieben — aber zu welchem Preis?
Iwan wacht um halb acht durch den Wecker auf, wählt einen Rollkragenpullover und starrt noch etwa zehn Minuten an die Wand. Dort hängt eine Fotosammlung, eine Erinnerung daran, dass er nicht allein ist. Irgendwo ist ein Bild mit Niko, sofern Iwan es im Zustand der Psychose nicht abgerissen hat. Er sucht es im Grunde nicht und findet es auch nicht wirklich.
Zur Schule kommt er pünktlich — um fünf nach acht. Er setzt sich auf die letzte Bank, so weit wie möglich von der Welt entfernt, und betrachtet seine Klassenkameraden, als sähe er sie durch die Dicke einer Aquariumglasscheibe.
Die Klassenlehrerin verkündet, dass Nikolas nicht mehr mit ihnen lernen wird. Fragen an sie unterbindet sie mit dem Hinweis auf Privatsphäre, und sie prallen wie eine Reverskarte zurück auf Iwan. In der Pause versammelt sich eine Menge um ihn:
„Er ist umgezogen“, füttert er sie mit ihren eigenen Vermutungen. Verlässliche Informationen hat er selbst nicht. „Nach Frankreich, oder so ähnlich.“
„Hast du noch Kontakt zu ihm?“
„Nein.“
„Warum?“
„Wir haben uns getrennt.“
„Warum?“, klingt nun schon im Chor, und die emotionale Färbung der Stimmen geht mit ihm in Resonanz. Jeder ist aufrichtig überrascht.
„Nun, er konnte überhaupt nicht auf Instrumenten spielen.“
„Was, so schlimm?“
„Ja, so schlimm, dass er das Tempo vom Rhythmus nicht unterscheiden konnte.“
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