Pnakotische Apokryphen einer Abgrundreisendenvon Felix Denk
„Die älteste und stärkste Emotion der Menschheit ist die Angst, und die älteste und stärkste Art der Angst ist die Angst vor dem Unbekannten.“
-H. P. Lovecraft
Lina, hattest du schon einmal die Idee ein Feuer zu erfinden, das statt Licht Dunkelheit anzieht?
Du stehst also vor dieser bescheuerten Treppe mit dem noch bescheuerteren Paternoster, mit seinem fleckigen Holz und dem zerfressenen Draht, an dessen wegstehenden Enden eine rostbraune Flüssigkeit haftet. An Ekel überboten wird die Brühe lediglich von dem undefinierbaren Sekret, welches seinen Ursprung im schwarzen Schimmel-Fleck an der Betondecke über dir findet. In den unebenen Winkeln sammelt sich die schwarze Tropfensuppe, rottet sich zu spiegelbildlosen, bewegungsstarren Lacken zusammen, deren Tiefe du auf eine Zahl zwischen zwei Zentimetern und zwei Metern schätzt.
Eine der gotischen Architektur anmutenden Edelstahl-Vergitterung hindert dich daran, die Treppenstufen zu betreten, abgesperrt von einem gusseisernen Vorhängeschloss, wie du es als Maschinensicherung aus der Papierfabrik kennst, in der du eines Sommers Schicht für Schicht dünnen Papierbrei aus einer altmodischen Bütte abseihen musstest. Lediglich die Rostflecken an den stumpfen Kanten waren deutlich weniger gewesen, allgemeines Arbeitsschutzgesetz und so.
Die Wände bestehen – au contraire zu der fleckigen Betondecke - aus hohlem Gips, der unter dem Gewicht eines Leitungsrohres, gefunden in dem moosgrünen Mülleimer neben dem Paternoster, nach nur wenigen Schlägen nach hinten wegkippt. Dunkelheit und eingesperrter Mief schlagen dir entgegen. Du presst dir dein schmutziges weißes Top an die Lippen und fuchtelst mit deinen Fingern gegen Spinnenweben, greifst dabei allerdings ins Leere. Die monochrome Deckenglühbirne flackert hektisch, die Lichtquelle, die den Zwischenraum meidet, wie eine Kreuzspinne die Dunkelheit.
Aufgrund des diffusen Lichteinfalls bemerkst du zu spät die Flut, die sich gegen die marode Holzverkleidung presst, ein tausendfaches Quieken und Scharren verdichtet sich zu einem Getose und nimmt in Sekundenschlägen immer mehr und mehr Raum ein. Bis du realisierst, dass es sich bei dem Schwall um dutzende Ratten handelt, wirst du bereits unter der Masse zu Boden gedrückt; Restlicht getilgt und dein Körper von vielen kleinen pelzigen Bäuchen und nackten Schwänzen gespickt. Ein Schmerz durchfährt deine müden Gliedmaßen, die ersten Zähne bohren sich durch deine Haut und wollen immer mehr und mehr von deinem schweinchenrosa Fleisch. Es schlängelt, es atmet. Sie kriechen in dein Tiefstes Inneres. Zuerst in den Mund, dann vor in deinen Hals, immer weiter nach unten: Lungen, Leber, Magen, Dünndarm, Dickdarm …
Lina, vergiss nicht, die Dunkelheit abzuschalten, bevor du schlafen gehst.
Du erwachst auf nassem Asphalt: busscheinwerferbestrahlt und mit dem Körper zur Seite gedreht, liegend und dich nun langsam aufrichtend. Du schmeckst dein eigenes Blut, wie es von der Straßenrinne zurück in deinen Mund fließt. Der Busfahrer fährt im Rückwärtsgang, starrt in die Ferne, als gäbe es dort mehr als die immergleichen grauen Wohnblockbauten deiner Heimatstadt zu erhaschen. Peinlich berührt drückst du dich mit den Händen von der Fahrbahn hoch, verschwindest in einer aufsteigenden Dunstwolke eines Gullydeckels.
„Aber wir Männer haben es doch mindestens genauso schwer“, sagt Mark zu dir mit beschwichtigender Mine. Ihr seid in deinem Studentenwohnheim, es riecht nach Schweiß und Sperma. Du hörst dich „Halt einfach die Fresse“ sagen und schubst ihn weg von dir. Er lässt sich unbeeindruckt in der Bewegung schwerfällig auf die Bettkante plumpsen. „Denkst du etwa, es ist lustig, wenn man als Typ nachts einer Frau begegnet und sie wechselt die Straßenseite wegen dir?“ „Vielleicht solltest du genau darüber einmal nachdenken?“, schlägst du ihm wütend vor. „Leck mich, du dumme Fotze“, murmelt er und spuckt dir vor die Füße. Das Licht im Raum geht aus.
Lina, ein Werwolf ist sexuell attraktiver als ein Hund.
Es ist Mitte November, tiefste Nacht und längst kein Hoodie-Wetter mehr. Trotzdem trägst du einen in dunkelgrau, abgewetzt, von der Marke Adidas und schmutzig. Erst schnell gehend, dann immer schneller, läufst du durch die wie ausgestorben wirkenden Straßen, vorbei an blassen Hochhäusern, der römisch-katholischen Kirche, einem Aldi, einem Park. Einst pittoreske Viertel sind auf einmal wie von einem Handyfilter getrübt und menschenleer; als seien sie von Blitzeis überzogen. Du stolperst über etwas Glitschiges, fällst hin, dein Blick weitet sich, dein Schädel dröhnt.
Du sitzt auf einem steinernen Absatz, die Füße über den Dächern von Amsterdam baumelnd. Ihr seid auf Abiturreise: Man steht um zwölf auf, hat um dreizehn Uhr seinen ersten Vollrausch und geht abends bis fünf Uhr morgens in diverse Clubs feiern. Du wirst nie wieder warm mit einem, höchstens mit Club-Mate. „Darf ich mich zu dir setzen?“, fragt dich Emma. Sie hat einen fertig gedrehten Joint in der rechten und ein Zippo-Feuerzeug in der linken Hand. Du nickst stumm. Wortlos holt Emma aus ihrer Handtasche eine kleine Bepanthen-Tube, drückt einige Tupfen auf deine geschwollene Wange und verreibt sie vorsichtig. „Besser?“, fragt sie leise, als wärst du ein krankes Tier und sie die Pflegerin. Erneutes nicken. Sie steckt sich den Joint in den Mund, gibt sich Feuer, inhaliert einmal kräftig und hustet kräftig von ihrem ersten Zug. Du schmunzelst leicht. Schweigend schaut ihr auf die vielen Kanäle, Grachtenhäuser und Grünanlagen. Ihr lächelt euch, je kleiner der Joint, immer öfter an. Fast habt ihr aufgeraucht, du nimmst gerade den letzten Zug und schließt annähernd genießerisch deine Augen. Du fühlst das leicht pelzige Gefühl in deinem Zahnfleisch, die Leichtigkeit in und unter dir. Leichtigkeit. Kein Sims zu sitzen. Das bemerkst du erst, als du schon fällst. Keine Emma mehr; über dir hängt lediglich eine oneirische Schwärze, als du ertrinkst in blubbernder, schwarzer Flüssigkeit.
Lina, trink weniger Wasser aus dem Styx, dafür mehr nahrhaften Ambrosianektar.
Ruckartig reißt ein dir unbekannter Impuls deinen Nacken gen Himmel und dein Körper richtet sich schlagartig auf. Es liegt erneut der unbeleuchtete Stadtpark vor dir, fast tenebros und in rotes Licht getaucht. Du nimmst die Beine in die Hand. Die krankhafte Stille war von Chaos verdrängt worden: Du spürst den Drang zu rennen, wie in einem Alptraum, in dem dich etwas verfolgt, du aber weder weißt, was und warum. Als du den Stadtkern erreichst, hörst du Trommelschläge hoch über dir. Der bröselige Asphalt scheint mit herumliegenden Autowracks eine Symbiose geschlossen zu haben, an den verfallenen Hochhäusern hangeln sich rapunzelhaft dicke Weinreben entlang, die schwarze Tropfensuppe, allerdings erhärtet, überzieht die meisten Schaufenster und an der Kreuzung neben dem Rathaus hat sich mittig eine Eiche durch den maroden Straßenbelag gekämpft und wacht über die grotesken Fremdkörper. Du kämpfst erneut mit Kopfschmerzen, Schlagschattenoptik und Schwindel. Diesmal genügt es allerdings im Laufschritt langsamer zu werden und ohnmächtig auf den Boden zu sinken, um in die nächste Szene zu fallen.
„Frau Mahnveldt, wir müssen dringend über Ihr schulisches Engagement und Verhalten sprechen“, sagt die Direktorin Müller mit ernster Miene, die zuerst dich, dann deine geknickt wirkende Mutter und schließlich einen Zettel in ihrer Hand anvisiert. „Das sind Aufzeichnungen von Ihrem Klassenvorstand, Herr Mörser, nach dem Sie über dreihundert Fehlstunden haben, über hundertfünfzig davon unentschuldigt, in Mathematik und Chemie sind Sie zudem versetzungsgefährdet und außerdem könnten wir Sie wegen Sachbeschädigung, Zitat des Römisch-Katholisch-Lehrers: In fünfundzwanzig Jahren Laufbahn habe noch nie jemand mit Permanent-Marker auf seine Kabinett-Türe“Hätt` Maria abgetrieben, wärt ihr uns erspart geblieben” geschrieben, anklagen. „Aber Frau Müller”, sagt deine Mutter beschwichtigend. „Seitdem Linas Vater uns verlassen hat, hatte sie keine leichte Jugend. Obendrein hatten wir in diesem Alter doch alle gewisse Probleme. . .“ „. . . Na, schön”, kam ihr Frau Müller zuvor. Ihre Haare scheinen dir plötzlich unecht zu wirken. „Frau Mahnveldt", sie blickt durch deine Augen, direkt in deine Seele. "Sie dürfen am Gutentahl-Gymnasium bleiben und wir werden von einer Anzeige vorerst ablassen. . . allerdings mit einigen Bedingungen.“ Frau Müllers Stimme beginnt Risse zu schlagen, sie wird dunkler und rauer. „Lina muss sich bei allen Beteiligten entschuldigen, sich bereitwillig zeigen, im nächsten Jahr, welches sie wiederholen wird, mehr anzustrengen. ” Frau Müller streckt dir ihre Hand entgegen, du rutschst mit dem Stuhl nach hinten. „Und außerdem hat sie sich konform zu kleiden, die dumme Fotze!“. Es ist Mark, der da vor dir steht, mit blonder Perücke, bekleidet mit Frau Müllers Rock. Er greift dich am Hals. Deine Mutter sitzt wie versteinert auf ihrem Sessel, in einer somnambulen Starre gefangen. „Dumme kleine Fotze“, zischt er, hebt dich über den Schreibtisch hinweg an einem Arm in die Luft. Du bekommst kaum Luft. „Selbst schuld, wenn man SO rausgeht“. Er lässt dich ruckartig los; du fällst, ertrinkst in tiefer, schwarzer Flüssigkeit.
Lina, du hast doch morgen einen Vokabeltest und weißt noch nicht, was“Mise en abyme” bedeutet.
Du reißt die Augen auf, mitten auf der Kreuzung liegend. Du bist vollkommen nackt. Keine Schuhe, keine Unterwäsche. Nur an deinem Bauch, besser gesagt dort, wo einst dein Nabel war, findest du einen fleischigen Schlauch. Er bewegt sich kriechend und ist fest mit dir verwachsen. Du willst ihn ausreißen, wie Unkraut, doch er ist zu stark für dich, führt von deinem Bauch geradewegs zu der Eiche, die in der Mitte der Kreuzung sitzt. Und wartet. Ein Spalt klafft in der Rinde, den du vorher noch nicht bemerkt hast. Er ist länglich, schmal und das Holz rundherum wirft Wülste, die an eine menschliche Vagina erinnert. Du bist vielleicht dreißig Meter entfernt und die Nabelschnur schleift dich über den Boden. Ein Flackern in deinem Kopf nimmt seinen Anfang.
Du drückst das erste Mal grelle Farben aus deiner Sprühdose, lässt deine krakeligen Initialen auf einer grauen Betonmauer verlaufen. 250 Giftstoffe klopfen das erste Mal gegen deine Lippen und du lässt sie in deine rosaroten Lungenflügel.
Du wirst weiter über die Straße gezerrt. Dein Rücken schmerzt.
Du lässt die Schallplattennadel über das Vinyl der "Goldenen Zitronen" und "18 Summers" gleiten und wirst augenblicklich von "Imagine Dragons" geheilt. Mit gezielten Nadelstichen und Zahnseide ziert dein erster Flicken die Rückseite deiner Jeansjacke. Du kennst Fuchur, den Drachen, dafür keine Influencer; die Nachmittage sind voller gotischer Letter und Druckerschwärze, deren Dunkelheit dir reicht, um Emo zu sein. Eine Nadel in der Pause durch eure Ohrläppchen. Lola meint, es wäre sicher, doch der erste Stich tut höllisch weh.
Du windest dich und beißt in das gallenartige Bindegewebe, doch ohne Erfolg.
Du stehst an einem Samstag unter der Obhut der Oktobersonne auf einem Parkplatz und trinkst Capri Sonne Multi-Vitamin. Abends spucken deine Eltern einander Nieselregen ins Gesicht, gelöffelt aus einem Suppentopf, der niemals ganz heiß wird. Dein Bruder versteckt sich oft im Wäscheschaffel; du nimmst mit in deine Tiefe, was man in dich wirft. Du sprichst viel mit dir selbst.
Du rufst bebend um Hilfe in die Weite der Nacht und erntest ein sardonisches Echo.
Du baust Höhlen aus Couchpölstern, versteckst dich vor dem Zähneputzen hinter dem bordeauxroten Vorhang eurer alten Wohnung, streichelst den Hund deiner Oma und wirfst mit Sand nach einem Maxi im Kindergarten. Die Tage werden immer länger und länger. Du zählst Sekunden und kommst doch immer auf Jahre.
Das letzte Mal schaust du in die Schwärze des Baumes, die im Begriff ist dich zu verschlingen, verschränkst die Arme vor der Brust, schließt die Augen und
Du stehst also vor dieser bescheuerten Treppe mit dem noch viel bescheuerteren Paternoster mit seinem fleckigen Holz und dem zerfressenen Draht, an dessen wegstehenden Enden eine rostbraune Flüssigkeit haftet. Diesmal drischst du mit dem Leitungsrohr auf das rostige Schloss ein, doch ein Erfolg bleibt aus. Als du dich zur Gipswand umdrehst, erkennst du ein bröckeliges Loch, aus dem lange Schnurbarthaare ragen. Die ersten Ratten, die aus der Wand auf dich zukommen, kannst du zwar totschlagen, doch auch in der Vorhalle findet dich der Schwarm und überläuft dich quiekend.
Lina, du kämpfst doch bloß wieder gegen Windmühlen. Lass gut sein, ja?
Als du erwachst, brüllst du den Busfahrer, die einzig lebendige Person in der blassen Stadt an, doch er schaut weiterhin dumm ins Leere, verlässt dich im Rückwärtsgang. Mark schlägst du diesmal mit der Faust, doch sein Waschbrettbauch fühlt sich an, als würdest du gegen harten Kunststoff schlagen. Er reagiert nicht und das Licht geht exakt zum gleichen Zeitpunkt aus wie beim letzten Mal. In der Stadt wirst du, egal wohin du gehst und was du machst, nach einer Weile ohnmächtig und findest dich anschließend in immer der gleichen Szene wieder. Wieder und wieder. Mit Emma versuchst du Kontakt aufzunehmen, doch sie fragt dich weiterhin nur, ob es dir besser geht und ob es dir etwas ausmacht, wenn sie sich zu dir setzt, als wären ihre Sätze nur vorprogrammiert. Bei Frau Müller und deiner Mutter versuchst du schon gar nicht mehr, eine Veränderung herbeizuführen. Du wirst wieder jünger und von dem Baum verschluckt. Immer wieder und wieder und darauf noch einmal.
Du erlebst das Leben im Leben und findest den verdammten Schlüssel zur Treppe nicht. Ein Ennui infiziert dich schleichend mit jedem Durchlauf wie ein Pilz ein Insekt.
Immer wieder der gleichen Binnenerzählung lauschen, während man seine unendlichen Spiegelbilder betrachtet. Immer wieder und wieder und darauf noch einmal.
Vorhalle – Ratten – Bus – Mark – Emma – Frau Müller – der Baum – die Kindheit – die Wiedergeburt
Vorhalle – Mark – Emma – Frau Müller – Wiedergeburt
Vorhalle – Wiedergeburt
Wiede
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