Schachspielvon Anastasia Nestorovic
Er bewegt die Schachfiguren ohne nachzudenken. Hinter den scheinbar willkürlichen Zügen steckt höchste Raffinesse und Präzision. Der Springer auf c6, der Läufer auf c4 und der Bauer auf e4, ein Zug nach dem anderen, ohne auch nur fünf Sekunden darüber nachzudenken. Während ich erfolglos versuche, mit seiner einschüchternden Geschwindigkeit mitzukommen, zittern meine Hände, und ich spüre die in mir immer stärker werdende Angst. Mein Magen wird von einer unsichtbaren Hand zerdrückt, jeder Atemzug fühlt sich schwerer und träger an als der Letzte, mein Herz schlägt so schnell, dass ich das Gefühl kriege, dass es sich aus meiner Brust herausreißen und auf dem vor mir liegendem Schachbrett landen wird. Ich sehe das Schachbrett nicht mehr. Vor meinen Augen ist nur die Erinnerung an meine undurchdachten Taten aus der Vergangenheit, die mich seit jeher jagen und mir nicht nur jegliche Ruhe rauben, sondern auch den Willen weiterzuspielen. Seine schwarzen Augen mustern mich aufs genaueste, jeden Blick, jeden Atemzug, jeden meiner Gedanken sieht er, er weiß, was ich getan habe. Anhand seines sinistren Lächelns kann ich nur ahnen, was er tun wird, wenn ich verliere. Wenn ich könnte, würde ich aufgeben, ihm das meine Schicksal überlassen und ihn lassen, der Herr meiner Seele zu werden. Nichts will ich mehr, als dass dieses Spiel so schnell wie möglich aufhört. Nichts will ich mehr, als das Geschehene ungeschehen zu machen. Längst habe ich aufgehört, an den Sieg zu denken und nur mein tiefer Pein und meine Verzweiflung sollen schnell beendet werden. Die Schachuhren, die neben dem Schachbrett stehen, ticken gleich schnell, dennoch habe ich das Gefühl, dass seine Minute wie eine Sekunde vergeht während meine Minute wie eine Stunde vergeht. Es scheint mir, als wäre nun die Zeit stehengeblieben. Ich bin an der Reihe. Mein Arm streckt sich zum Läufer und gerade als ich diesen in die Hand nehmen wollte, kommt mir ein eigenartiges Gefühl hoch. Ehe ich erfassen konnte, was für ein Gefühl es war, verschwand es wieder. Es war ein flüchtiger Hauch von etwas, was ich noch nie empfand. Langsam nahm ich meine Hand vom Läufer zurück, atmete tief ein und konzentriere mich auf meine Emotionen. Neben der Panik, der Angst und der Verzweiflung, kam schon wieder dieses ungewöhnliche, aber doch angenehme Gefühl. Es war wie ein Licht in der Dunkelheit, wie Ruhe im Lärm und wie Ordnung im Chaos. Meine letzten Kräfte setzte ich dafür ein, mich an dieses Gefühl zu klammern und plötzlich ging die Zeit wieder weiter. Ein unerwartetes Gefühl der Hoffnung nahm mich ein und mir wurde klar, dass ich noch nicht verloren habe. So nahm ich wieder den Läufer in die Hand und spielte weiter mit der neugewonnen Selbstsicherheit. Es ist noch ungewiss, wie lange das Spiel dauern wird, vielleicht zwei Minuten, vielleicht zwei Stunden oder vielleicht auch zwei Monate. Mein Bedürfnis, das Spiel, und somit auch mein Leid, so schnell wie möglich zu beenden, ist nun fort und ich weiß, dass sich meine Verzweiflung auszahlen wird und dass alles wieder gut wird, auch wenn das Spiel nur langsam vorangeht. Noch ist kein Schachmatt in Sicht.
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