Schneller atmen, Bürger! von Julia Bohrer
Das Summen der Klimaanlage klingt heute. . . schneller. Vielleicht hat das System ein Update bekommen. Seit der Rat für Effizienz die Kontrolle übernommen hat läuft ohnehin alles im Hochgeschwindigkeitsmodus. Sogar die Luft.
Ich beginne meinen Arbeitstag, wie es das Protokoll besagt: “Optimieren Sie Ihre Atmung. Beschleunigen Sie Ihr Denken. ”
Mein Pacer am Handgelenk blinkt mich an. Wie ein Zumbatrainer mit Geltungsdrang. Er misst alles: Puls, Tippgeschwindigkeit, Blinzelfrequenz. Ein zu langsamer Lidschlag gilt als Arbeitsverweigerung.
Ich arbeite im Ministerium für Informationsfluss, in der Abteilung für Textverdichtung. Unsere Mission ist es, jegliches entschleunigte Denken aus den Netzwerken zu entfernen. Wir sortieren Wörter, die zu lange brauchen, aus. Intern nennen wir das“Entschleunigungsterrorismus”, die größte Gefahr aller Zeiten, dicht gefolgt von der Mittagspause. Der Begriff wurde übrigens in Rekordzeit erfunden: 0, 8 Sekunden.
Mein Kollege kaut zu langsam, sein Kiefer unterschreitet die vorgeschriebene Bissrate. Kein Wunder, dass zwei Wächter schon auf ihn zustürmen. Letzte Woche wurde jemand abgeführt, weil er beim Niesen eine halbe Sekunde zu spät“Gesundheit” gesagt hat. “Verzögerte Reaktionsbereitschaft” hieß es im offiziellen Tatbestand. Seitdem hat ihn keiner von uns wiedergesehen.
Mein Pacer leuchtet nach wie vor grün. Das heißt, dass ich produktiv, unauffällig und damit systemkompatibel bin. Natürlich bin ich nicht zu schnell, sonst wäre ich ja hektisch. Aber auch nicht zu langsam, denn dann wäre ich faul.
Ein neuer Bericht blinkt auf: “Erhöhung der nationalen Bewegungsfrequenz: +4, 2 % – Produktivitätsrekord! Bürger danken dem Rat für wohlverdiente Effizienz. ” Ich lösche die überflüssigen Wörter und Satzzeichen. Sie kosten Zeit. Und Zeit fördert – Gott bewahre – das individuelle Denken.
Manchmal frage ich mich, wie in den 2020ern alles anfing. Vielleicht, als jemand entschied, dass acht Stunden Schlaf“nicht skalierbar” seien. Oder als jemand beschloss, Kaffee ab sofort intravenös zu konsumieren. Die Menschheit wollte mehr Tempo. Jetzt hat sie Burnout als Staatsreligion.
Mein Pacer piept leise. Warnstufe Gelb. Ich habe zu lange nachgedacht, wie gefährlich! Ich tippe schneller, und die Worte ziehen an mir vorbei, während der Sinn liegen bleibt. Wichtig ist nur, dass ich mich an die Normen des Systems halte.
Der Lautsprecher über mir ertönt: “Bleiben Sie im Fluss. ” Lustig, wenn keiner mehr weiß, wohin der Fluss eigentlich führt. Am liebsten würde ich aufhören. Mich wehren. Individuell denken, wie es früher erlaubt war. Meine eigene Karriere aufbauen, die auf mehr basiert als darauf, wie gut ich mich an die Regeln gehalten habe. Wieso müssen wir leiden, nur weil die Menschen von damals sich keine Pausen gönnen wollten? Mein Blick wandert zurück zu dem geöffneten Bericht. Ich balle meine Hände zu Fäusten, möchte darauf einschlagen, bis meine Knöchel bluten und das Display zerspringt.
Ich seufze. Das wäre nur eine Fehlermeldung im System.
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