Schnürsenkelvon Lilly Postmann
Elf Sekunden. Ich brauche elf Sekunden, um meinen Schnürsenkel zu binden. Elf Sekunden Vorsprung, mindestens neun Meter, die ich aufholen muss. Elf Sekunden, in denen meine Abwesenheit wie ein leichter Wind unbemerkt davonkommt, in denen ich ihre Gedanken kein einziges Mal streife. Neun Meter weiter bin ich nicht mehr zu sehen, neun Meter weiter bin ich vergessen. Ich bin Glas; ich bin durchsichtig. Mein rechter Schuh lockert sich. Mit einem nach unten schweifenden Blick sehe ich das rote Gewirr, welches den Dreck aller meiner Wege der letzten neun Monate mit sich trägt. Neun Monate, neun Meter. Bin ich nur für neun Meter sichtbar? Bin ich darüber hinaus nichts weiter als eine klare, zerbrechliche Hülle? Ich bin Glas; ich bin durchsichtig. Der kaum noch intakte Knoten lockert sich mit jedem Schritt, fällt auseinander und hinterlässt zwei am Boden schleifende Schnüre. Sie hüpfen auf und ab, wenn ich meinen Fuß anhebe und zurück auf den Asphalt stelle. Ich schaue ihnen zu, wie sie schleifen und hüpfen und mir signalisieren, dass ich sie doch zubinden soll. Ich will ja, ich wünschte ich könnte es. Aber ich schaffe es nicht. Ich kann diese Elf Sekunden nicht zwischen uns kommen lassen, ich kann nicht zusehen, wie diese neun Meter uns trennen. Ich weiß, dass es die einzig sinnvolle Aktion in meiner Situation wäre, meine Schuhbänder zuzuschnüren, doch ich muss mit ihnen mithalten, sichtbar bleiben, ganz bleiben. Ich bin Glas; ich bin durchsichtig. Ich falle zurück, ein halber Meter hinter ihnen, mein linker Schuh übt weniger Druck auf meinen Fuß aus. Ich muss nicht hinunterschauen, meine Augen bleiben stets auf ihre Hinterköpfe geheftet. Sie sind wie angeklebt von meiner Angst, der Angst, dass sie sich in Luft auflösen, wenn ich sie nicht in meinem Sichtfeld behalte. Ohne meinen Schuh zu sehen, weiß ich, dass dort, wo heute Morgen noch eine Masche war, jetzt zwei von Tag zu Tag dünner werdende Stofffetzen sind. Kein Wunder, dass sie so ausgefranst sind, ich binde sie ja nie zu, ich lasse sie ja einfach hängen und schleifen und hüpfen. Elf Sekunden. Elf Sekunden brauche ich, um meinen anderen Schnürsenkel zu binden. Elf Sekunden, dreizehn Stufen, die ich aufholen muss. Ich widersetze mich dem Drang, das rote Gewirr fein säuberlich zuzuknoten. Wenn ich es nicht tue, stolpere ich doch früher oder später darüber, nicht wahr? Elf Sekunden, dreizehn Stufen und sie sprechen weiter, drehen sich nicht nach mir um. Ich bin Glas; ich bin durchsichtig. Der Anblick ist wie ein Hammer, der auf mich einschlägt, wiederholt ausholt und die dünne Hülle, die von mir übrig ist, in tausende Splitter verwandelt. Bin ich nach dreizehn Stufen schon vom Schatten verschluckt, durchdringt mich selbst das Licht? Elf Sekunden, neun Meter, dreizehn Stufen. Ich kann nicht vermeiden, dass ich über meine Schnürsenkel stolpern und all die Scherben in mir verlieren werde, wenn ich nicht toleriere, dass sie mich zurücklassen. „Eines Tages“, verspreche ich mir selbst. Eines Tages wird mich jemand sehen, auf mich warten, die kleinen Scherben aufheben und sie Stück für Stück wieder zusammenkleben. Sonnenstrahlen werden sich an meiner Oberfläche reflektieren, anstatt sie zu durchdringen. Ich muss nur noch ein paar Meter, oder ein paar mehr als das, mit offenen Schuhen gehen, denn ich bin Glas; ich bin durchsichtig. Aber irgendwann, irgendwann werden sie mich sehen anstatt durch mich durch, irgendwann werde ich kein Glas mehr sein; nicht mehr durchsichtig. Und irgendwann, irgendwann werde ich sie fest zuschnüren, meine Schnürsenkel. All das denke ich mir, während das Rot sich weiter ausfranst und hüpft und schleift. Ich spüre sie auch, die Risse und Splitter, die von mir abfallen und den Boden zieren. Sie glitzern so schön, die Glasscherben, wenn die Sonnenstrahlen sie sanft küssen. Da tut es einem fast leid, sie zu verlieren. Ich würde sie gerne an mir tragen, nicht unter den Hammerschlägen zerbrechen. Ihre Haare wippen leicht mit ihren Schritten, und irgendwie fühlt es sich doch wichtiger an, mich selbst nicht zu verlieren. Wenn sie der Preis sind, den ich dafür bezahlen muss, dann wäre dieses Geschäft doch mein Schutz davor zu stolpern, all die Teile um mich herum auszustreuen und nicht mehr wieder zu finden, oder nicht? Ich weiß, dass ich mich loslösen kann, wenn ich es doch nur zulasse. Meine Augen befreien sich von den Hinterköpfen, schenken keine Beachtung mehr an die, die mich nicht beachten. Die Intervalle zwischen den Pumpstößen meines Herzens verkürzen sich, ein Klopfen gegen meine Brust. „Mach auf, lass sie hinaus, lass sie gehen.“. Die Spur meines Schrittes wandert nach Links, ich beuge mich hinunter und entspanne meinen Nacken zum ersten Mal, seit meine Schuhbänder sich entknotet haben. Es fühlt sich gut an, wie tief Luft zu holen, nachdem man sie für einen Moment zu lange angehalten hat. Der Stoff fühlt sich weich an, ganz sanft auf meiner Haut. Und sie halten die Schnüre fest, meine Finger. Ziehen an ihnen, drücken die Zunge meines Schuhs wieder gegen meinen Fuß. Ein Knoten, eine Lasche, noch eine, zubinden. Fast so, als würde sich das Chaos in mir drinnen langsam zur Ruhe legen. Elf Sekunden. Neun Meter? Mein linker Schuh, eine Wiederholung aller Bewegungen, die ich auch rechts ausgeführt habe. Elf weitere Sekunden. Zweiundzwanzig. Ich stehe wieder fest auf dem Boden, meine Schuhe umarmen mich, halten mich. Sie sind nicht weg, die Risse in mir. Doch ich bin kein Glas mehr; nicht mehr durchsichtig. Anstatt zu versuchen, achtzehn Meter aufzuholen, drehe ich um und gehe zurück, begutachte das, was an meinem auf Haare gerichteten Blick vorbeigezogen sein muss. Ich muss sie schließlich aufheben, die Stücke von mir, welche ich verloren habe. Vielleicht war der erste Schritt, mich selbst wieder zu finden, einer zurück, in die gegengesetzte Richtung von all dem, was sich so vertraut angefühlt hat. Ich drehe mich noch einige Male um, sehe zu wie die Distanz zwischen uns sich ausdehnt. Aber sie ist nicht mehr da, die Angst davor, sie aus den Augen zu verlieren. Sie ist ersetzt, ersetzt durch ein Gefühl, welches unbekannt ist, für mich noch unbeschreiblich. Die Scherben schneiden mich nicht mehr, Kleber überzieht die scharfen Kanten, und „eines Tages“ ist endlich da. Ich reflektiere die Sonnenstrahlen, ich bin sichtbar, weniger zerbrechlich. Neben meinen Schuhen ist kein ausgefranstes, hüpfendes, schleifendes Rot mehr. „Eines Tages“ ist heute, denn ich habe sie fest zugeschnürt, meine Schnürsenkel.
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