Temporärvon Oscar Schachermayer
Ich habe es zum ersten Mal am Dienstag um acht bemerkt. Ich war zu spät in die Schule gekommen, und in meiner Panik habe ich aus fast schon kindlicher Naivität meine Armbanduhr zurückgestellt. Ich hätte behauptet, dass ich wegen der falschen Stellung meiner Uhr zu spät gekommen wäre. Also stellte ich die Uhr um eine Stunde zurück. Mir wurde schwindlig. Ich fiel um. Also, ich fiel nicht wirklich um, aber es fühlte sich so an. Und dann lag ich schon wieder in meinem Bett. Es war sieben Uhr. Ich sprang also auf, beeilte mich beim Anziehen, rannte panisch zur Haltestelle und… erwischte den Bus.
Ich fuhr also in die Schule, und dachte weiter nicht über die kleine Zeitreise nach. Ich tat sie als Traum ab, als wirre Vermischung von nächtlicher Ungewissheit und Déjà-Vu. In der ersten Stunde jedoch war mir so unmenschlich fade, es war Latein, und ich hasse Latein, dass ich den Trick mit der Uhr nochmal versuchte. Ich zog also leicht an dem kleinen Rädchen, drehte es behutsam, bis der kleine Zeiger zur nächsten Stunde gereist war und drückte es wieder hinein. Ich fiel wieder. Diesmal jedoch landete ich nicht im Bett, sondern auf meinem Platz. Am Ende der Stunde.
Ich war ekstatisch. Wie viele Möglichkeiten ich doch hatte! Zuallererst probierte ich etwas Simples aus. Ich drehte mich zurück zum Kirtag letzte Woche. Und siehe da, es funktionierte. Aus Angst etwas zu verändern, drehte ich mich jedoch schnell wieder vor. Ich experimentierte auch an kleinen Dingen. Zum Beispiel stellte ich die Uhr um eine Sekunde nach hinten. Ich fiel und landete während ich gerade dabei war, das Rädchen in Bewegung zu setzen. Beim Gedanken, was passiert wäre, hätte ich auch nur ein bisschen später zurückgedreht lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. In einem Endloszyklus feststecken wollte ich nämlich nicht.
Nach vorne stellen war immer ein Risiko. Einmal erschien ich im Sportunterricht und bekam einen Fußball mit voller Wucht ins Gesicht. Ich hatte Glück, da ich beim darauffolgenden Sturz nicht auf das Handgelenk mit der Uhr fiel, denn was dann geschehen wäre, kann und will ich mir nicht vorstellen. Ich blieb also schlussendlich im Jetzt, mit gelegentlichen Abstechern nach vorne und hinten, aber nie sehr weit.
So vergingen die Zeiten, und ich war eigentlich mit der Richtung, die mein Leben eingeschlagen hatte, relativ zufrieden. Jedoch nagte ein Gedanke immer wieder an mir. Wie weit? Nach hinten war es mir klar, vor meiner Geburt würde es mich noch nicht geben und Babyhände könnten auch keine Uhr bedienen, aber nach vorne… ja, das gab mir zu denken. Irgendwann einmal, beim für die anderen ersten, für mich fünften Nachhausegehen von einer diesmal ziemlich lustig verlaufenen Party, packte mich dann aber doch die Neugier. Ich drehte, und drehte und drehte. Genau wie weit, weiß ich selbst nicht mehr. Es könnten drei, zehn, zwanzig oder sogar dreißig Jahre gewesen sein. Dann drückte ich das Stellrädchen wieder hinein.
Das Gefühl zu fallen schoss wie eine Kanonenkugel durch meinen Körper. Ich übergab mich. Ich schaute mich um. Ich schien in einer kleinen, heruntergekommenen Wohnung zu sein. Aus einem Spalt an der Decke träufelte Sand und formte am Boden einen kleinen Berg. Verschiedene Konservendosen, manche mit Lebensmitteln, manche mit Wasser befüllt säumten sämtliche aus Plastikkisten gebaute Regale. Ein kleiner Lichtstrahl drang durch die Wellblechtür, die aussah, als wäre sie in weniger als zehn Minuten mehr schlecht als recht zusammengeschweißt, und zog einen wohlig gelben Strich durch die schattige Behausung. Es war heiß. Sehr heiß. Ich schaute auf die Uhr. Es musste einen Fehler geben, sie zeigte nämlich an, dass es mitten in der Nacht sein sollte. Ich entschied mich also, draußen nach dem Rechten zu sehen.
Ich lugte hinaus und blickte in eine Wüste, wie ich sie bisher nur in Filmen gesehen hatte. Dünen säumten den Horizont. Überreste bleichgebrannter Ruinen zierten die ewigen Sandflächen. Eine sengende Hitze lag in der Luft. Alles war still. Kein Vogelgezwitscher, keine spielenden Kinder, nur das leise Rieseln von Sand. Ich fing an, mit meinen abgemagerten, knochigen Händen die Uhr zurückzustellen, drückte das kleine Rädchen hinein und…
lag wieder in meinem Bett. Am Dienstag. Um sechs. Ich habe die Uhr in eine kleine Schatulle versperrt und unter meine Dielen gesteckt. Ich lebe mein Leben nun ziemlich normal. Kein Zurückspulen, kein Nach-vorne-drehen. Aber irgendwann, das weiß ich, irgendwann, es kann heute sein, morgen, oder in vierzig Jahren, ist es mit uns vorbei.
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