Unsere Stadt, 1: 34 nachts, örtliches Altenheim
Ich bin schon wieder Fremde besuchen. Sepp Winkelmoser, steht auf einer Plakette auf dem Nachthemd des alten Mannes, in dessen Zimmer ich gerade gestiegen bin. Die Pflegerinnen und Pfleger lassen die Fenster gekippt im Hochsommer, und ich steige durch sie ein. Manchmal ist ein Fenster auch ganz offen, was soll denn passieren, es wird wohl keiner den Sepp stehlen kommen oder die Liesi. Alte Menschen heißen alle gleich und schauen alle gleich aus. Rotädrige Pausbacken und kleine, verschrumpelte Augenlider, gar nicht so viele Falten wie man angenommen hätte. Watteflusen unter den Achseln und auf den fleckigen Köpfen, die sommersprossigen Arme brav über der Bettdecke gefaltet, wie Kinder sind alte Leute, ebenfalls nah dem Tod, nur dass sie hinhumpeln zu ihm und nicht wegwachsen, ein Zeitstrahl. Ich gehe einen Schritt und setze mich auf einen Stuhl gegenüber von Sepp. Ein bisschen Mondlicht und Grillenzirpen dringen in das kleine Zimmer, das nach Desinfektionsmittel, frischer Wäsche und Tod riecht, Tod, sich anbahnend. Ich frage mich, ob Sepp ein guter Mensch ist, ein freundlicher, auch wennn er alt ist. Menschlichkeit trägt sich ab, tropft stetig heraus, bis dann im Alter die meisten undicht sind und leer. Einige sind dicht, haben Elefantenhaut und Güte und wissen, wie man Vanillekipferl backt und häkelt. Ich hoffe, Sepp ist ein Elefant, schleppt in seinem dicken Herzen noch ein bisschen Güte mit sich rum. Ich sitze auf dem Altenheimstuhl und betrachte das Zimmer. Es gibt nicht viel zu sehen. Ein Krankenhausbett, ein kleiner Eingangsbereich mit Kommode, ein Nachttisch mit Wasserglas, ein Fenster, ein Regal, auf dem eine kleine Kartonschachtel liegt. Darauf steht in freundlichen weißen Buchstaben: Adventsmomente. Daneben eine kleine Gebrauchsanleitung in Comicform. Draußen hat es 25°C. Tee, denke ich um viertel vor zwei nachts im Hochsommer, auf der Kommode steht ein Wasserkocher, ich fülle ihn im Bad auf und lasse das Wasser kochen. Das ist laut, Sepp schnarcht, ich sterbe ein bisschen vor Angst. Wenn die Schwester kommt, sage ich mir, sieht sie kochendes Wasser, Sepp und mich, wie ich mir in die Hose mache. Der Wasserkocher klickt hörbar und ich lege mir behutsam einen Teebeutel mit Waldbeerzaubergeschmack in die Tasse. Sieben Minuten später sitze ich im Sessel, schlürfe Tee und beobachte Sepp, er liegt kompakt und eingemummelt in den Laken, das sieht lieb und sehr langweilig aus. Warme Sommernachtluft kommt herein und duftet mich an, und ich muss ein bisschen lächeln über alles, obwohl der Teebeutel undicht ist und im letzten Schluck getrocknete Beerenstückchen aus der Tasse mitkommen, die sich in meinen Zahnzwischenräumen festsetzten. Leise stehe ich auf, um Sepp, das Elefantenkind, nicht zu wecken und spüle die Tasse im Bad aus. Ich lege sie vorsichtig kopfüber auf den Waschbeckenrand und trockne meine Hände an den ungemütlich glatten Altenheimhandtüchern ab, dann gehe ich wieder hinaus, wo Sepp liegt, sehr verlässlich. Fünf Minuten später döse ich auf dem Stuhl vor mich hin, plötzlich schrecke ich hoch, mein Puls rast und mein Blick auch und neben Sepp piepst ein Gerät, das ist ein Geräusch wie ein Feuermelder, ein Stressfaktor. Es warnt. In Sepps Fall warnt es vor dem Tod, den ich gar nicht sehen kann, obwohl er wahrscheinlich schon am Bett steht. So stelle ich mir das gerne vor, den Tod, so bildlich. Sepp atmet ungerührt. Ich muss an die Schwester denken, die jetzt gleich kommt, springe auf, suche Steckdosen, finde eine, reiße am Kabel, Stille. Stille, Gottseidank. Vielleicht hat es niemand bemerkt, ich lausche für ein paar Sekunden unbewegt. Niemand. Ich atme aus. Ein kurzes Atmen, das abgeschnitten wird, weil ich gemerkt habe, dass nur ich atme. Also ich atme, allein. Das heißt, Sepp ist weg, ohne sich zu verabschieden. Ich richte mich auf und schaue ihn an. Er sieht nicht anders aus als vorher. Ich nähere mich ihm, wie man sich einem bellenden Hund nähert, als würde Sepp zubeißen. Ich versichere mich, dass seine Zähne in dem Glas am Nachttisch liegen, das tun sie. Ich stupse ihn an, halte mein Ohr an seinen Mund und erschrecke fürchterlich, als aus dem dünnen Mund ein Röcheln kommt, das kräftig ist, kräftig für einen, der gerade noch tot war. Aus, ein, geht das Röcheln, bis es wieder anhält. Ich lasse ihn nicht aus den Augen, frage mich, ob ich ihn aufgeweckt oder umgebracht habe. Ich stehe vor Sepps Bett, meine Knie in die kühle Matratze gepresst. Zwei Minuten später, wie einer, der ringt, atmet Sepp weiter, er schläft, er stirbt. Es ist nicht wie im Film, ruhig, ernst, still, vielleicht sanft. Es ist nicht sanft. Es ist erschreckend, laut, es ist lächerlich und furchtbar. Wieder verstummt Sepp. Ich stehe über ihn gebeugt, ich möchte dringend, dass er stirbt. Ein lautes Röcheln durchbricht die Stille, ein Schnappen nach Luft, ein Auftauchen. Ich warte, bleibe still. Dann stirbt Sepp zum dritten Mal in dieser Nacht, es ist zu heiß hier drin. Ich warte zehn Sekunden, dreißig Sekunden, eine Ewigkeit. Ich warte ganz still und trotzdem erschreckt mich das raue Kratzen, das kann doch nicht normal sein, ich blicke um mich, irgendwer muss doch kommen, das Piepsen gehört haben. Ein roter Knopf am Bett, Rot ist gut, Rot warnt. Ich drücke ihn, nichts passiert. Ich haue noch mehrmals auf den Knopf, bis ich bemerke, dass er wahrscheinlich leuchten sollte. Der Stecker. Ich bücke mich, schiebe ihn wieder in die Steckdose, das Piepsen ertönt und hilft überhaupt nicht. Ich betätige den Knopf, fest und gründlich. Ich drehe mich zu Sepp, schaue in sein Gesicht. Ich höre eine Stimme, noch weiter weg, Sepp raspelt neben mir, ich blicke zum Türspalt. Gerade als ich unter der Tür Licht erkennen kann, wende ich mich ab, sage nichts zu Sepp, auch nicht in Gedanken. Noch bevor Sepps Herz zum letzten Mal pumpt, bin ich durch das Fenster hinaus in die Nacht gesprungen.
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