Vorbeivon Leonard Reichmann
Ich wache auf. Hände umschließen mich, doch in dem Moment, in dem ich meine Augen öffne, lassen sie von mir ab. Ich stehe auf. Um mich herum Nebelschwaden. Ich blicke zurück und sehe keine Hände mehr. Nur dieselbe weiße Fläche, die den gesamten Boden bedeckt. Nichts ist zu sehen, keine Wiesen, kein Meer, keine Häuser, keine Sterne oder Perlenlichter. Nur eine endlose Leere, darüber ein weißer Himmel mit Nebelschwaden.
Ich gehe zögerlich ein paar Schritte nach vorne. Mein Schleichen wird zu einem sicheren Gang, mein Gehen zu einem gehetzten Lauf – ich laufe nach vorne, in die unendliche Weite, ohne Ziel, ohne Richtung, ohne klar ersichtbaren Sinn. Nach einiger Zeit komme ich erschöpft zum Stehen. Ich keuche atemlos vor mich hin und setze mich langsam auf den Boden. Wie anstrengend es doch ist, so lange zu laufen, ohne dabei vorwärtszukommen. Ich bin immer noch am selben Ort wie zuvor. Ich schließe meine Augen und lasse die Erschöpfung in mich hineinfließen. Ich spüre, wie erst meine Füße und Hände, dann Beine und Arme einschlafen. Ich spüre, wie ich sie nicht mehr spüre. Ich lasse kraftlos meine Arme zu Boden fallen – ich sitze da wie eine Puppe, die nicht aufgezogen wurde. Die Taubheit breitet sich weiter aus in meinen Oberkörper, in meinen Hals. Ich öffne noch einmal die Augen. Ich liege nun am Boden. Ich spüre nichts mehr – nur noch, wie sich meine Augenlider langsam schließen, fast wie in Zeitlupe.
Und dann spürte ich nichts mehr.
* * *
Du warst ein Kind deiner Zeit, als du aus dem Leben gerissen wurdest.
Du hast an allem um dich herum Spuren hinterlassen, ob du wolltest oder nicht.
Deine Eltern, deine Familie, deine Freunde und Feinde.
Deine Stadt seufzt dir mit jedem ihrer verpesteten Atemzüge nach.
Du hast hier gelebt und gewirkt, ob es dir bewusst war oder nicht.
Jeder deiner Schritte hat einen Abdruck hinterlassen. Jeder Grashalm, den du umgeknickt hast, trägt bis heute eine Narbe. Jeder Atemzug, den du genommen hast, hat ein Vakuum hinterlassen. Jeder Glücksschrei, jede Wehklage, jede Freudenträne, jeder Heulkrampf, den du verklingen hast lassen, wird ein Echo hinterlassen.
Doch du bist gegangen. Du bist vergangen.
Und so wie du werden auch deine Spuren vergehen.
Deine Schritte werden unter tausend anderen begraben.
Die geknickten Grashalme werden absterben und zu Staub zerfallen.
Die Vakuen deiner Atemzüge werden sich mit neuer Luft füllen müssen.
Und die Echos deiner selbst werden durch das Geschrei der Welt übertönt werden.
Du warst ein Kind deiner Zeit, als du aus dem Leben gerissen wurdest.
Und wie auch deine Zeit wirst du nie wieder sein.
* * *
Ich wache auf. Ein bekannter Ort. Ja, allerdings. Ich könnte meine Augen schließen und dennoch jede Kante und Ecke mit meinen Fingern abtasten. Doch das tue ich nicht. Ich weiß genau, wieso ich hier bin. Ich habe ein Ziel. Eine Chance. Nur noch eine. Und die muss ich nutzen. Ich springe aus dem Bett und renne aus der Tür hinaus. Ich stürze mich ans Ende des Flurs und die Treppe hinunter. Irgendwo hier muss sie doch sein… Ich reiße die Tür auf und werde von einem heftigen Windstoß und der blendenden Sonne begrüßt. Ich schenke ihnen keine weitere Beachtung und renne aus der Tür über die Wiese. Ich erwarte einen Kälteschauer, der mir über den Rücken läuft, der mir Gänsehaut bereitet, doch ich spüre nichts. Fast wie in einem Traum. Ich bleibe verzweifelt stehen. Wo könnte sie bloß sein? Ich rufe ihren Namen. Keine Antwort. Ich verzweifle noch mehr. Ich muss sie finden, noch einmal, noch ein letztes Mal… Ich weiß nicht genau, wer die Person ist, die ich suche, doch ich weiß, dass sie wichtig ist. Wie in Trance bewege ich mich weiter. Egal in welche Richtung, Hauptsache fort von hier. Ich renne weiter nach vorne. Über die Wiese. Über den Kiesweg. In den verzauberten Wald hinein. Ich sehe nicht mehr genau, wo ich hinlaufe, es ist zu dunkel. Ist es schon Nacht? Ich blicke nach oben. Sterne funkeln durch das Blätterdach auf mich hinunter. Ein Komet blitzt vorbei. Ich folge ihm. Er zeigt mir den richtigen Weg. Er führt mich zu ihr. Schließlich gelange ich zu einer Lichtung an einer Klippe. Ein einsamer Baum wächst dort, ganz allein. Und an ihn angelehnt sehe ich sie. Die Person. Ich rufe ihren Namen und sie dreht sich zu mir um. Ihr Gesicht ist unkenntlich und dennoch kommt es mir so bekannt vor. Ich renne auf sie zu und bleibe kurz vor ihr mit einem Keuchen stehen. „Komm“, sagt sie mir, „setz dich zu mir.“ Sie deutet auf den Platz neben ihr. Ich setze mich dorthin. Vor uns breitet sich die Stadt aus, hinter ihr das Meer. Ich seufze auf. Ich habe es geschafft. Wobei… noch nicht ganz. Als könne sie meine Gedanken lesen, fragt sie mich: „Warum bist du hier?“
Ich zögere einen Moment, dann antworte ich langsam: „Ich musste dich noch einmal sehen.“
Ein Lächeln entfleucht ihrem lippenlosen Gesicht. „Ich weiß“, sagt sie mir mit ihrer ruhigen Stimme. Sie wendet sich der Stadt zu. „Schöner Abend, findest du nicht?“, sagt sie.
„Mag sein“, antworte ich. Wir halten kurz inne, um diesen Augenblick einzuatmen.
„Eigentlich schade“, sagt sie plötzlich.
„Was?“, frage ich sie, obwohl ich die Antwort schon kenne. Ich will bloß noch so lange wie möglich ihre Stimme hören.
„Dass du von mir gehst. Und das bei diesem Ausblick…“ Sie sagt es ohne Vorwurf, ohne Schmerz. Als Tatsache. Als Fakt. Unweigerlich. Unausweichlich. Recht hat sie.
„Ich muss.“
„Ich weiß.“
Wir schweigen eine Weile. Die Sonne, die nun zum Mond geworden ist, neigt sich langsam dem Horizont zu. Die Sterne verblassen langsam und das dunkle Blau des Himmels wird immer heller, fast schon weiß. Nebel steigt auf und die Stadt und das Meer verschwinden dahinter. Plötzlich kann ich nur noch sie sehen. Sie und das pfirsichfarbene Licht der Dämmerung, das uns durch den Nebel erhellt. Wir blicken einander an.
„Sag es“, fordert sie.
„Ich will nicht“, antworte ich.
„Du musst.“
„Ich weiß.“
Ich seufze auf. Diese Person, die ich mein Leben lang gekannt, geschätzt und lieb gehabt habe – ich wurde ihr entrissen. Sie ist nicht mehr echt für mich, genauso wenig wie ich echt für sie bin. Ich wollte sie lediglich noch einmal sehen…
„Auf Wiedersehen“, sage ich mit schwerem Herzen. Der Nebel wird immer dichter, nun sehe ich wahrlich nichts mehr.
„Wir werden uns nicht wieder sehen“, antwortet mir eine Stimme aus dem Nebel, von der ich nicht wahrhaben will, dass es ihre ist. Wobei es nie wirklich ihre war. Sie ist nun mal nicht mehr echt für mich.
„Ich weiß“, antworte ich und verblasse.
* * *
Hier, dort, wie, wann,
Ohne Zeit und ohne Drang,
Ach, wie die Seele bricht,
Ist sie doch aufs Sein erpicht
Ein jeder träumt, ein jeder wacht,
Unterliegt der größten Macht,
Die da wandelt Nacht zum Tag –
Keiner sie übertreffen mag
Und wenn Sekunden fortgeschritten,
Wenn die Nächte fortgeritten,
Wenn der Lunge letzter Zug,
Wenn der Seele letzter Flug,
Dann ist dir klar, leider zu spät,
Wie die Zeit dahin vergeht
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