Wortneurosenvon Merlind Raible
24. Dezember, Figaro. Ihre Schuhe klackern am spröden Asphalt. Das Licht der Straßenlaternen hüllt ihre Silhouette in milchigen Schleier.
24. Dezember, Figaro. Er hält mir die Tür auf. Lässt erst mich vorbei, dann schreitet er hindurch. Lässt die Tür sie hinter uns zuschwingen. Er riecht nach Milchreis und Thymian.
11. November, Pommes mit Ketchup. Sie steht an der Schlange zum Fastfoodstand. Sie trägt einen weißen Hut, der ihr gerade so über die Stirn reicht, dass er die Oberkanten ihrer Augenbrauen berührt. Mit einem behandschuhten Finger tippt sie auf die Menükarte, die am Stand hängt. Pommes mit Ketchup.
11. November, Pommes mit Ketchup. Er hat mich gefragt, wo ich wohne. Martinistraße 7, habe ich ihm gesagt, Klingelschild 01. Jetzt stehe ich in der Martinistraße 7, vor mir gelbweiß blinkende Lichterketten, schon im November. Die Hände in seidene Handschuhe gehüllt. Er mag Pommes mit Ketchup.
9. Dezember, Frost. Draußen baden die Gänse im eisbedeckten Teich. Er hat mir gesagt, er mag Schnee mehr als Regen. Wir sitzen im Wohnzimmer. Er in grauem Pullover. Ich habe ihm gesagt, ich mag, wie es sich anfühlt, über den Stoff zu streifen, die kleinen Unebenheiten mit dem Finger nachzufahren, abzumessen. Ich habe ihm gesagt, es geht mir gegen den Strich, gemessen zu werden.
10. Oktober, Wellen. Sie trägt schwarze Lackschuhe und mahagonifarbene Hose. Der Wind presst den Stoff an ihre Schenkel, zerknittert ihn hier, zieht dort, malt ihr Fransen auf die Unterschenkel.
10. Oktober, Espresso Martini. Er sitzt auf der Terrasse, gleich am Fenster. Er hat mich nicht bemerkt. Vor ihm steht eine weiße Tasse mit schwarzem Gebräu, intensiv im Geschmack wie sein Haar in der Farbe. Er nimmt einen Schluck. Italienischer Kaffee.
14. Dezember, freier Fall. Die Kälte hat Regentropfen an meine Fensterscheibe geklebt. Wenn ich mich mit der Stirn dagegen lehne, bringe ich die Eisblumen zum Schmelzen. Ich habe ihm gesagt, Schmelzen wäre wie Fallenlassen. Loslassen von dem, was wir sind.
23. Dezember, Sterntaler. Er hat mir Sterntalerkekse vorbeigebracht und jetzt erfüllen Nuss und Karamell den Raum mit zuckriger Schwere. Nuss und Karamell, habe ich ihm gesagt, das könnte ich jeden zweiten Tag essen. Nuss und Karamell, habe ich ihm gesagt, das ist bei uns keine Selbstverständlichkeit mehr.
22. Dezember, Sterntaler. Ich arbeite jetzt in einer Filiale in der Innenstadt. Dort, wo Pflastersteine den Boden säumen und Pudel Gassi gehen. Um vier Uhr morgens bin ich hierhin geradelt. Um vier Uhr drei habe ich sechs Blech Kekse aus dem Ofen geholt. Linzeraugen, Vanillekipferl, Butterkekse, Ochsenaugen, Bärentatzen, Hafermakronen auf dem Tresen verteilt. Wenn sie ein Gebäck wäre, wäre sie Sterntaler.
24. Dezember, Martinistraße 7. Eine Frau in weißem Mantel geht die Straße entlang, ein Mobiltelefon zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt. Ihre Schuhe klackern am spröden Asphalt und das Licht der Straßenlaternen hüllt ihre Silhouette in milchigen Schleier. Die Frau in weißem Mantel nickt, spricht: „Alles klar.“ Vor der Tür mit der Aufschrift 01 bleibt sie stehen, kramt in der Seitentasche und schließt auf. Öffnet die Tür, betritt die Wohnung.
Er sitzt im Wohnzimmer, neben ihm eine silberne Füllfeder mit golden gravierter Spitze. Die Füllfeder ist nicht ganz dicht, hat links unter der Tischkante eine kleine Lache gebildet. Fünf Millimeter Durchmesser.
Der Blick der Frau wandert zu den blassgelben Papierbögen, die auf dem Tisch verteilt liegen. Ihre Augen wandern über die gefalteten Ecken und Quadrate, Dreiecke und Zylinder: Karo, Martini, Ketchup, liest sie. Freier Fall, Sterntaler, Quadrate. Nochmal und nochmal, bis ihre Augen die geschriebenen Lettern sprunghaft registrieren: Martini, Pommes, Sterntaler, Sterntaler, Karo, Wellen, Figaro. Und immer wieder: Karo, Karo, Karo, Karo, Karo.
Die Frau in weißem Mantel sieht zu ihm, dann zurück den Zeilen. Atmet ein, öffnet ein kleines durchsichtiges Fläschchen, holt Pillen heraus, zwei blaue und eine rote. Schiebt sie ihm behutsam unter die Nase, sagt: „Nehmen Sie.“ Aber er hört und sieht sie nicht. Er ist vollkommen vertieft, denn er bastelt: einen Strauß aus papiernen Rosen für Karo.
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