Wunden
Die Wissenschaft geht davon aus, dass traumatische Erlebnisse Auswirkungen auf die eigenen Nachkommen haben. Traumata können sich in der DNA festsetzen und an die Folgegenerationen weitervererbt werden. Das bedeutet nicht zwingend, dass die Symptomatik einer Traumatisierung genauso bei den Kindern wie bei einem selbst auftritt. Entscheidend wird es aber, wenn das Kind selbst mit einem traumatischen Erlebnis konfrontiert wird. Studien haben ergeben, dass Kinder von Menschen mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung eher dazu neigen, nach akuten Belastungen selbst eine psychische Erkrankung zu entwickeln.
Meine Eltern hatten beide ihren Rucksack zu tragen. Sie waren die erste Generation, die den Krieg nicht erlebt hatte, gepredigt wurde allerdings das, was sich als bewährt erwiesen hatte. Ablenkung sei im Krisenfall das höchste Gut, denn was ich nicht sehe, das gibt’s auch nicht. Das gilt auch für das Innenleben. Und wenn ich es nicht sehen will, dann muss ich mich anderweitig beschäftigen. Und die Beschäftigung fand der Großteil in der Arbeit.
Der Wirtschaftsaufschwung kam ja nicht von irgendwo, er war das Resultat des gekonnten Ignorierens eigener Wunden. Meine Eltern lebten das anfangs auch so. Aber als mein Bruder kam, entschloss Mama sich, den Kurs zu wechseln und uns die Kindheit zu geben, die sie sich selbst so sehr gewünscht hatte. Mama war ein Kind von Nachkriegskindern; Kinder, die in Baracken aufwuchsen und das Brot in die Milch tunkten. Die Großeltern hatten ebenso ihren Rucksack zu tragen, und wussten ihn sogleich weiterzugeben, wenn auch nicht mit Absicht. Jeder Mensch versucht stets, im Guten zu handeln; und wenn nicht, ist er nicht bei Sinnen. Meine Familie war stets bei Sinnen, solange sie arbeiteten. Jeder möchte nur das Beste für einen, und so entschied sich einer der beiden dazu, daheim bei den Kindern zu bleiben.
Mama schoss sich damit selbst ins Knie. Und weil sie noch eine Kugel übrighatte, schoss sie mich versehentlich auch noch an. Heute sieht man die Wunde nur noch kaum. Aber zwischenzeitlich eiterte sie, schwoll an und entzündete sich schwer. Rot und Gelb und Violett klaffte das Loch im Bauch, das fortan mit einem weißen Seidentuch verdeckt wurde; zwei Sicherheitsnadeln oben und eine unten ließen die Wunde unter eine unbefleckte Decke kriechen, wo niemand sie sehen konnte, und sie richtig schön eitern durfte.
Die Wunde wollte von anderen nicht gesehen werden. Am Schlachtfeld prangerten schon genügend Schlaglöcher, ich war ja nicht der Einzige, der angeschossen wurde. Bei mir daheim wurde sich oft ins Knie geschossen. Menschen neigen dazu, unliebsame Gegebenheiten zu verdrängen, und mein Loch war so eine Gegebenheit. Es passte nicht dazu, überspannte den Rahmen; persönliche Kapazitäten waren bereits ausgelastet durch den ersten Schuss. Den Zweiten zu beachten hätte auf langer Sicht womöglich noch mehr Opfer gefordert. Das Seidentuch war in Wahrheit eine unsauber aufgelegte Löschdecke; um das, was darunter kokelte, konnte man sich später kümmern.
Aber es kokelte jetzt, und die Wunde klaffte. Und so rein das Seidentuch auch war, entzündete sie sich. Menschen neigen dazu zu verdrängen, aber auf Actio folgt immer Reactio. Das Schussloch juckte. So trennte mich das Seidentuch vom Anblick des Loches, nicht aber von seinen Auswirkungen. Also reagierte ich und versuchte mit dem Jucken zurechtzukommen.
Sicherheitsnadeln heißen so, weil sie etwas beieinander halten sollen. Zwei Metallteile, die einem großen Ganzen Stabilität verleihen. Und würde man die Grenzen mit lauter Sicherheitsnadeln abstecken und die Landstriche verbinden, Grashalm an Grashalm, Stacheldrahtzaun an Selbstschussanlage, dann hätten wir womöglich weniger Kriege. Vorausgesetzt, es sind ordentliche Sicherheitsnadeln, denn meine wurden schnell kaputt.
Das Seidentuch löste sich, und von oben konnte ich die Blessuren erblicken.
Schmerzen dir die Hände, steig auf deine Zehe und der Schmerz wird vergehen. Also brach ich mir aus kindlicher Dummheit die Füße. Und der Mann, der sie verarzten sollte, feuerte einen weiteren Schuss ab. Er traf die Wunde, peng, und die zweite Kugel bohrte sich noch tiefer ins Fleisch. Der Eiter spritzte ihm in die Augen, und er konnte nicht nachvollziehen, woher er kam. Er wollte nämlich die Wunde ebenfalls nicht sehen.
Löcher wollen gefüllt werden, also begann ich mit meinem Daumen in der Wunde herumzustochern. Fuhr sie ab und kratzte die kleinen Krusten auf. Es war toll, das Loch zu sehen, ich hatte fast vergessen, dass es existierte. Ich war froh, das weiße Tuch verloren zu haben. Es faszinierte mich, war so tief, dass es schien durch mich hindurchzugehen. Ein endloser langer Tunnel, in den man stundenlang reinstarren und -stochern konnte. Das sah nicht nur ich so, und die hundertneunzehn Honorarnoten bestätigen das. Auch Fremde waren an der Wunde interessiert. Sowas sähe man nicht alle Tage, sagte man mir, vor allem nicht in dem Alter. Einmal bat mich eine Ärztin, vor einer Studentengruppe zu sprechen, um zu zeigen, wie ein Erstgespräch abläuft. Dutzende glotzende Augenpaare in einem dunklen Hörsaal, und ich dachte wow, genauso fühlte ich mich damals, ließ mich von Fremden beglotzen und stocherte in meiner Wunde herum.
Im Hörsaal fühlte ich mich genauso wie damals beim dritten Schuss, nur, dass ich Kleidung trug und älter war und keiner an meine Wäsche wollte. Also war es nicht dasselbe, und ich bin froh darüber.
Der Hörsaal fühlte sich ähnlich an, hätte sich vom Mann und dem dritten Schuss aber nicht deutlicher unterscheiden können. Gefühle feuern Trugschüsse ab, weil, lieber ein falscher Alarm als garkeiner und der Feind überrumpelt dich. Oftmals erkennst du den Feind garnicht, er nennt sich ja nicht so. Er heißt Gabriel oder Flo, und lächelt süß auf seinem Profilbild. Welcher Feind würde schon lächeln. Manchmal gibt sich der Feind auch nette Spitznamen, manchmal macht er sich jünger, oftmals kokettiert er und meistens jagt er. Feinde haben eines gemeinsam: sie sehen dich als Beute, egal, was sie behaupten oder was sie sich einreden. Das war mein Mantra, und es brauchte viele Honorarnoten, bis ich davon runterkam.
Es hatte lange gedauert, bis ich wieder mit meinem Papa Autofahren konnte. Ich habe drei Jahre lang verweigert, zu einem männlichen Arzt zu gehen. Ich dachte immer, Fehlalarm sei besser als kein Alarm, aber zu viele Fehlalarme machen dir das Leben schwer. Du wirst dein eigener Feind. Der einzige Vorteil daran ist, dass andere Feinde weniger als Bedrohung gesehen werden. Man muss das Messer nämlich nicht werfen, wenn man es selbst in der Hand hält.
Also steckte ich fortan zwei Finger in das Loch, denn sich selbst weh zu tun bedeutet, dass es kein anderer tut.
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