Wurzeln so groß, Wurzeln so tief. von Anna Bauer
Nicht alle Dörfer sind gleich.
In unserem Dorf wachsen einem Wurzeln,
wenn man nur lange genug hierbleibt.
Wer einmal Wurzeln geschlagen hat,
der wird nie wieder weggehen.
So erzählen sie zumindest,
die alten Leute und die Jungen auch.
I: Es ist Abend. Es ist einer der seltenen Abende, an denen wir gemeinsam essen. Mama, Papa und ich. Mama isst meist irgendwo, bevor sie nachhause kommt. Fast Food. Belegte Weckerln. Restaurantmenü. Papa isst meist nirgendwo, bevor er nachhause kommt. Kein Hunger. Kein Durst. Kein knurrender Magen. Ich esse meist anderswo, wenn ich darauf warte, dass Mama und Papa nachhause kommen. In meinem Zimmer. Bei Oma. Im Garten. Heute essen wir gemeinsam. Brot, Butter, Käse. Paradeiser, Paprika, Eier. Schinken, Speck, Aufstrich. Als ich den Tisch decke, greife ich beinahe nach einem Teller zu viel. Wir brauchen nur drei Teller, erinnere ich mich. Nur drei Teller. Wir essen schweigend. Wir haben uns nichts zu sagen. Wir können uns nichts sagen. Mama schluckt. Papa schmatzt. Ich huste. Ein Käsebrot, zwei Paradeiser, ein paar Stück Paprika. Das Glas Wasser trinke ich danach nur, um etwas mit meinen Händen zu tun zu haben. Denn: Der Tisch wird erst verlassen, wenn alle fertig gegessen haben. Als Mama den letzten Bissen von ihrem Brot nimmt, schaut sie mich an. Mir fällt auf, dass sie das schon lange nicht mehr gemacht hat. Mich anzuschauen. Ihre Augen haben dieselbe Farbe wie meine. Früher mochte ich diese Farbe. Jetzt kann ich sie nicht mehr aushalten. Wir haben drei potenzielle Wohnungen für dich gefunden, sagt Mama. Papa und ich. In der Stadt. Hättest du nächste Woche Zeit sie dir anzuschauen? Ihre Stimme zittert. Mama und ich starren um die Wette. Sie meint es nur gut, ich weiß. Sie will mir nur die Chance geben endlich neu anzufangen, ich weiß. Sie will nur, dass ich wegkomme aus diesem Dorf, ich weiß. Ihr kennt meine Antwort, flüstere ich. Dann stehe ich auf, drehe mich um und verlasse das Zimmer. Ich werde nicht weggehen. Ich kann nicht weggehen.
Unser Dorf besteht aus Leben,
die aus ihren Plänen gelaufen sind.
Wir haben noch Zeit wegzugehen, haben sie alle gesagt.
Wir haben noch ein Leben vor uns, haben sie alle gedacht.
Das war, bevor sie Wurzeln geschlagen haben.
Das mit dem Festwachsen war viel schneller gegangen,
als je einer von ihnen geahnt hatte.
Kind und Kegel. Schuld und Schulden.
Trauer und Tote. Wurzeln und wachsen.
Unser Dorf ist durchdrungen von Träumen,
die als Wurzeln im Erdboden verschwunden sind.
II: Mama hat mich in die Trafik geschickt. Zwei Lottoscheine soll ich kaufen. Einen mit Joker. Einen ohne Joker. Meine Eltern haben schon lange gelernt, dass sie kein Glück haben. Und trotzdem hoffen sie noch immer. Mama hasst die Trafik. Sie ist deswegen nicht hier. Ich hasse die Trafik. Ich bin trotzdem hier. Manchmal, so glaube ich, sieht Mama meine Gefühle nicht, weil sie es nicht ertragen kann zu wissen, dass ich fühle, was sie fühlt. In der Trafik riecht es nach Zigarettenrauch und Druckertinte. Außer mir sind keine Kunden da. Die Trafikantin schaut mich trotzdem nicht an. Ich hole Luft und vergrabe meine Fingernägel in meinen Handflächen. Später werde ich eingedrückte Halbmonde auf meiner Haut zählen können. Zwei Lottoscheine, brülle ich der Trafikantin entgegen. Einen mit Joker. Einen ohne. Die Trafikantin ist eine mittelalte Frau. Sie lächelt lieb, wenn sie einen guten Tag hatte. Früher mochte ich sie. Die Trafikantin ist nicht schwerhörig. Ich schreie, weil: sie nichts gehört habe damals, nie. Keine Schreie aus dem Nachbarhaus. Keine Rufe. Keinen Lärm. Ich schreie, weil: sie habe sich nicht einmischen wollen. Junge Liebe sei eben so. Laut und feurig und wild. Mit Tränen und Streit. Ich schreie weil: alles anders ausgehen hätte können. Die Trafikantin schiebt mir wortlos zwei Lottoscheine entgegen. Als ich sie später anschaue, fällt mir auf, dass beide mit Joker sind. Gezahlt habe ich nur für einen. Als ob die Trafikantin mit der Chance auf ein bisschen Glück alles gut machen könne.
In meiner Familie haben alle große Pläne gehabt.
Das war bevor ihnen Wurzeln gewachsen sind.
Sie sind in diesem Dorf aufgewachsen.
Sie sind mit diesem Dorf verwachsen.
Aber wenigstens du, haben sie alle zu meiner Schwester gesagt,
aber wenigstens du wirst die Welt sehen.
Die Träume meiner Familie lasten nun auf meinen Schultern.
III: Ich besuche Oma nur selten. Es gibt viele Gründe dafür. Erstens: Meine Oma hat viele Spiegeln in ihrem Haus hängen. Zweitens: Wenn ich an ihnen vorbeigehe, sehe ich darin nicht mich, sondern die Person, der ich am ähnlichsten sehe. Drittens: Meiner Oma geht es wie mir. Heute bin ich trotzdem bei ihr. Magst du Tee? , fragt Oma. Nein sage ich und beobachte sie dabei wie sie heißes Wasser in meine Tasse leert. Magst du Kekse? , fragt Oma. Nein, sage ich und Oma steht auf, um das Keksteller zu holen. Da iss etwas, sagt sie. Da iss. Ich nicke. Erzähl mir etwas, bittet Oma. Und dann nennt sie mich bei dem Namen, der nicht der Meinige ist. Es fällt uns beiden auf. Ich greife nach der Tasse mit heißem Wasser. Noch bevor ich einen Schluck trinken kann, habe ich mir schon die Lippen verbrannt.
Meine Schwester wollte gerade weggehen
- in die große Stadt, in die weite Welt -
als die Liebe um die Ecke bog und sie festhielt.
Seine Augen so treu. Sein Herz so weich. Seine Hände so sanft.
Die Liebe blieb nicht lange, meine Schwester schon.
Im Dorf. Bei ihm.
Sie hatte an einer Stelle Wurzeln geschlagen,
an der die Erde rau und hart war
und die Wurzeln tief graben mussten,
um an Wasser zu gelangen, um an Nährstoffe zu gelangen.
Meine Schwester war ein Baum geworden,
der leicht gefällt werden konnte.
IV: Ich habe einen Termin beim Augenarzt. Ich lese die Buchstaben von der Wand ab. A, K, J, S. Alles richtig. Sogar die kleinen. Ganz unten. B, F, T, E. Der Arzt nickt. Sehr gut, sagt er, als er mir mit der Taschenlampe in die Augen leuchtet. Sie sehen ausgezeichnet. Er wartet, dass ich aufstehe und gehe. Danke und auf Wiederschauen. Ich bleibe sitzen. Das kann nicht sein, sage ich. Also das ich gut sehe. Ich habe die Zusammenhänge nicht gesehen, sage ich. Damals. Sogar aus der Nähe nicht. Alles gut, hat meine Schwester gesagt. So ist er eben. Ich bin gestolpert. Ich wollte ohnehin nicht ausgehen. Ich möchte ihn nicht wütend machen. Er meint es doch nur gut. Der Augenarzt starrt auf die Buchstabentafel hinter mir. Das tut mir leid, meint er schließlich. Aber dafür gibt es leider keine Brille. Nur gegen Unschärfen. Dagegen kann ich etwas machen. Als ich gehe, gibt er mir eine Tüte Süßigkeiten, wie sie kleine Kinder immer bekommen.
Meine Eltern haben immer viel gestritten.
Sie sind nicht nur mit dem Dorf verwachsen,
sondern auch mit sich selbst.
So sehr, dass sie sich die Luft zum Atmen nahm.
So sehr, dass sie die Nähe nicht ertragen konnten.
Meine Schwester und ich lernten,
dass Streit zu der Liebe dazugehört.
Vielleicht fiel es ihr deswegen so lange nicht auf,
dass bei ihm gar keine Liebe dabei war.
V: Ich gehe in den Baumarkt und kaufe einen Kübel Farbe. Sonnengelb. Es ist die Lieblingsfarbe meiner Schwester. Ich streiche die Wand neben meinem Bett. Einfach so. Die Farbrolle hinterlässt zwei Kleckse auf dem Teppich. Die Streichaktion war ein Schnellschuss, denke ich und male aus den Farbflecken am Teppich zwei Herzen. Als die Farbe trocken ist, hänge ich Bilder auf der Wand auf. Auf einem davon ist meine Schwester zu sehen. Sie lächelt. Mama hat das Bild von ihr in dem letzten Sommer geschossen, in dem sie ihn noch nicht kannte. Ich lehne mich an die Wand und frage mich, wann zum letzten Mal alles gut war. Sonnengelb. Ich vermisse und ich vermisse nicht. Meine Eltern sehen die neu gestrichene Wand. Sie sagen nichts dazu.
Nachts fahren in unserem Dorf keine Autos.
Man hat hier keine Lust wegzufahren,
schon gar nicht nachts.
Der rote Kombi,
der damals durch die Finsternis fuhr,
wurde von dem Krachen von Baumästen,
wurden vom Murren der vielen Wurzeln,
wurde von einem Schwarm schwarzer Krähen begleitet.
So stelle ich es mir zumindest vor.
In Wahrheit fiel der rote Kombi in dieser Nacht niemandem auf.
Wir schliefen doch schon alle.
VI: Es ist Mittwoch, als ich ausnahmsweise zu früh in der Schule bin. Meine Sitznachbarin hat nicht damit gerechnet. Sie schiebt die Zeitung schnell unter ihr Heft. Die Überschrift habe ich trotzdem noch gesehen. Beziehungsdrama steht darauf. Meine Sitznachbarin liest morgens gerne die Gratisblätter, die es am Bahnhof gibt. Wenn ich gewusst hätte, dass du heute früher kommst, sagt sie, dann. Ich hole tief Luft. Schon okay, seufze ich. Ich lese jede Woche neue Namen. Meine Schwester war eine von ihnen. Ich weiß nicht, was mehr wehtut. Dass sie eine davon war. Oder dass nach ihr noch welche waren. Es ist nicht deine Schuld, sagt meine Sitznachbarin. Sie ist gut darin Floskeln an der richtigen Stelle zu verwenden. Es hilft mir trotzdem nicht.
Die Nachrichten wussten vor uns was passiert war.
Leiche in Wald gefunden. Freund geständig.
Beziehungsstreit. Eifersucht.
Als die Polizei bei uns klingelte, weinten wir bereits.
Es war die Schuld, die uns niederdrückte.
Wir haben Dinge, gesehen, auf die wir uns keinen Reim machen wollten.
Wir haben auf das Licht in den Scherben geschaut und nicht auf den Schmerz.
Wir haben an die Liebe geglaubt, wo längst keine mehr war.
Die Lügen meiner Schwester klangen zu gut, um nicht wahr zu sein.
IV: Wenn Mama und Papa und ich sonntags spazieren gehen, dann fahren wir bis ins nächste Dorf. Oder noch weiter. Über Hügeln hinweg, bis der Wald in unserem Rücken liegt und sich vor unseren Augen die Weite der Ebene erstreckt. Wir gehen nicht mehr im Wald spazieren. Wir ertragen es nicht. Papa läuft uns beim Spazierengehen immer davon. Er brauche das Tempo, sagt er. Wovon flüchtest du, frage ich. Papa muss darauf nicht antworten, Wir kenne alle drei die Antwort: Vor der Vergangenheit. Vor den Fehlern. Vor den Wurzeln. Mama und ich schleichen hinterher. Der Wind geht kalt heute. Ich zittere. Ich weiß, dass du aufgehört hast, an deine Zukunft zu denken, sagt Mama. Aber vergiss nicht: Du hast eine. Und ich möchte, dass du sie nutzt. Ich gehe weiter, einfach weiter, immer weiter. Als wir uns ins Auto setzen, schließe ich die Augen und öffne sie erst wieder, als wir den Wald hinter uns gelassen haben und mich die altbekannten Dächer des Dorfes begrüßen. Meine Eltern wollen, dass ich in die Stadt gehe. Meine Eltern möchten dieselben Fehler nicht noch einmal wiederholen. Meine Eltern wollen, dass ich nicht für immer bleibe. Hier in diesem Dorf.
Dabei möchte ich doch nur Wurzeln schlagen,
solange bis sie den Boden durchdrungen haben
und ich sie ein letztes Mal umarmen kann.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX